Reimann, Aribert

Sieben Fragmente für Orchester

in memoriam Robert Schumann, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: das Orchester 04/2010 , Seite 71

Zur besonderen Art des Beginns seiner Sieben Fragmente für Orchester in memoriam Robert Schumann (1988) hat sich Aribert Reimann (so Wolfgang Burde im ausführlichen Vorwort zur Partitur so geäußert: „Es hat sich vorher schon etwas abgespielt, wie das im ersten Fragment zu hören ist. Man macht ein Fenster oder einen Vorhang auf und man ist plötzlich in einer Situation. Das, was vorausgegangen ist, muss man sich vorstellen.“ Das Orchesterwerk hat also keinen definitiven Anfang, sondern beginnt irgendwo; und auf vergleichbare Weise schließt es: Es löst sich auf, zerfasert, zerbröselt. Während seiner Anwesenheit ziehen Gedanken- und Erinnerungsbilder, Assoziationen vorbei, die nahtlos ineinander übergehen, fast miteinander verschmelzen. Das erste Fragment ist kompositorisch am ehesten fest gefügt, nimmt relativ viel Raum ein, der Übergang zum zweiten erfolgt attacca. Mehr und mehr verschwimmen die Übergänge, zusehends werden die Fragmente faserig, löchrig.
Ausdrücklich vermerkt die Partitur die Zitate aus Robert Schumanns Klavier-Variationen Es-Dur (1854) – aus dem Thema der Variationen und aus der Variation V: Zu Beginn des dritten Fragments wird der erste Takt des Schumann’schen Themas eingeblendet, zu Beginn des fünften Fragments ein Splitter aus dem weiteren Verlauf des Schumann-Themas (nach dem Doppelstrich). Das letzte und siebte Fragment schließlich zitiert die fünfte Variation Schumanns, die sich strukturell vom Thema der Variationen unterscheidet: Während dieses noch eher fest gefügt und akkordisch aufgebaut ist, tritt die fünfte Variation zersprengt auf. Das Klavier wird bei Schumann zu einem Instrument mit mehreren Ebenen, die einander überlagern, wobei in jeder Schicht verlorene und vereinzelte Ereignisse gleichsam im luftleeren Raum hängen, dennoch aufeinander bezogen sind. Die Variation des Motivs bewirkt dessen Zerstörung.
Und genau diesen Prozess der Zersetzung und Auflösung scheint Reimann mit seinem Orchesterstück nachzuzeichnen: „in memoriam Robert Schumann“. Die Komposition lässt dabei Bilder entstehen, die auftauchen und verschwinden, die teilweise verschwimmen. Die Farbigkeit erzielt das Werk durch eine Orchesterbesetzung, die hinsichtlich der Mehrfachbesetzung der Streicher (12 – 10 – 8 – 8 – 6) und ihrer großzügigen Ausstattung der Bläser (auch mit Bassinstrumenten) an Wagner erinnert. Der Farbenzauber, der durch Schichtungen von Liegeklängen oder durch in sich bewegte Klangflächen, ferner durch Hinweise wie con sordino, sul ponticello, flautando u.v.m. oder durch Flageolett-Schichtungen entsteht, bewirkt die soeben erwähnte Bildhaftigkeit. Auch die Harmonik (kleinste Distanzen bei breit aufgefächertem Streicher- oder Bläsersatz) tritt in den Dienst der Klangfarbe.
Ein Werk, das äußerste Präzision des Zusammenspiels erfordert. Es wurde am 25. September 1988 in Hamburg vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Gerd Albrecht uraufgeführt.
Eva-Maria Houben