Vestard Shimkus

Shimkus plays Shimkus

Vestard Shimkus (Klavier), Liepaja Symphony Orchestra, Ltg. Atvars Lakstigala

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Skani
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 72

Nach einem ruhigen, vom Klangkontinuum der Streicher umgebenen Beginn des Soloklaviers entwickelt sich ein lebhafter Dialog. Der Klavierpart bewegt sich zwischen improvisatorischen, rhythmisch freien, floskelhaften Motiven und temperamentvollen Akkordballungen. Dazu erklingen seufzende Glissandi und akzentuierte, gezogene Töne der Streicher, die sich zu sirenenartigen Klängen steigern. Interpretiert wird das Werk vom lettischen Komponisten Vestard Shimkus (*1984), der in seinem ersten Klavierkonzert selbst den virtuosen Klavierpart spielt (komponiert im Jahr 2008). Resonanzklänge des Flügels und scharfe Dissonanzen, Glissandi und Tremoli der Streicher eröffnen den dritten Satz des Klavierkonzerts. Der Solist treibt mit wilden, pantonalen ­Akkordballungen in ein turbulentes Klanggeschehen, in welchem beim Kulminationspunkt das Subkon­tra-A mit perkussiver Wucht dominiert, bis sich das ­Ganze auflöst in eine zarte, leuchtende, freie F-Tonalität.
Licht und Dunkelheit, kontemplative Ruhe und äußerste Bewegungsintensität stehen in Shimkus’ Musik direkt nebeneinander. In den friedlichen und lyrischen Passagen ahnt man jederzeit Grauen und Unfrieden, welche oft unvermittelt einbrechen. So auch bei dem Tongemälde Gates of Destiny (2018) für Klavier und großes Orchester. Ein das Schicksal ankündigendes Ostinato aus drei Tönen bildet die Grundlage für freie Variationen, welche das Liepaja Sinfonieorchester unter Leitung des Dirigenten Atvars Lakstigala mit schillernden Farben und einer grandiosen Schlusssteigerung spielt. Der Klavierpart und die farbige Orchestrierung erinnern dabei durchaus an Alexander Skrjabins Prométhée.
Emotionale Welten zwischen Realität, Traum und Albtraum finden wir in den virtuosen neun Klavieretüden Dreamscapes (2014) wieder. Die Titel der einzelnen Etüden lassen freie Assoziationen zu und werden oft bildhaft-programma­tisch umgesetzt. In den Flood ­Gates verdichten sich kristalline Klänge und freie rhythmische ­Floskeln durch das die ganze Zeit gehaltene rechte Pedal zu intensiven Klangwolken. Tsunami entwickelt sich aus dunklen Clustern zu wilden ­Akkordausbrüchen und in Parallel Dream-Time bekommen die Akkordballungen eine zerstörerische Wucht, die an eine kriegerische ­Attacke erinnert. Das Ende dieser siebten Etüde besteht aus Trillern und Tremoli, eine flammende Auflösung symbolisierend. The Forgotten Dream ist Johann Sebastian Bach gewidmet und klingt wie ein variiertes Choralvorspiel – tonal mit raffinierten freitonalen Einfärbungen. Das polyphone Satzbild wird durch zahlreiche barocke ­Verzierungen bereichert.
Die emotionsgeladene, teils eruptive Musik von Vestard Shimkus ist sicher nichts für schwache Gemüter. Wer aber neugierig und aufgeschlossen ist, wird auf dieser CD in seiner vitalen, aufwühlenden und mitunter naturalistischen Klangwelt einiges Überraschende und Faszinierende entdecken können.
Christoph J. Keller