Olli Mustonen

Sextett für 2 Violinen, 2 Violen, Violoncello und Kontrabass

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Schott, Mainz
erschienen in: das Orchester 6/2025 , Seite 67

Schmerzensschreie: Heftig dissonierende Akkorde eröffnen das Werk, zunächst gedehnt, dann kurz hingeworfen, getrennt durch „verzweifelte“ Anläufe zu etwas Unbestimmtem, das keine Gestalt findet. Der Komponist imaginiert einen Hörer, der „auf die Oberfläche eines feindseligen Planeten geworfen [wurde], auf dem es kein begreifliches Leben gibt“.
Die apokalyptische Eröffnung entstammt der Feder des finnischen Multitalents Olli Mustonen: Seit langem als Pianist weltweit gefeiert, tritt Mus­tonen zunehmend auch dirigierend und komponierend in Erscheinung. Mag der Begriff „Postmoderne“ ein wenig abgegriffen erscheinen, auf Mustonens Ästhetik trifft er wahrlich zu: Seine Musik schlägt Bögen von barocker Kontrapunktik bis zum Minimalismus und bezieht Einflüsse der Klassik, des national-finnischen Sibelius-Tons sowie der Stilpluralität des 20. und 21. Jahrhunderts souverän-spielerisch ein. Insbesondere eine Reihe großformatiger Kammermusikwerke – darunter zwei Nonetti – erlebten erfolgreiche Aufführungen. Zu dieser Werkgruppe zählt Mustonens ungewöhnlich besetztes Sextett: Anders als in Brahms’, Dvořáks oder Schönbergs Sextetten bildet nicht ein zweites Cello, sondern ein Kontrabass die klangliche Grundierung. Das Werk entstand im Auftrag des Bonner Beethovenhauses und wurde dort anlässlich des Beethovenjahres 2020 vom hochdekorierten finnischen Quartett meta4 sowie der Bratschistin Tabea Zimmermann und dem Berliner Philharmonischen Bassisten Janne Saksala uraufgeführt.
Wie geht es nach „außerirdischem“ Beginn weiter? Unter der Spielanweisung „Colossale e misterioso“ entwickelt sich ein amorpher Strom, der in stetem Crescendo und Accelerando und sich steigernden Achtelbewegungen einem vermeintlichen Höhepunkt entgegensteuert, der indes ausbleibt: Eine Reminiszenz an den dramatischen Gestus des Beginns mündet vielmehr in geisterhaftem Pianissimo. Deutlich lebensnäher mutet das anschließende „Vivace e inquieto“ an: ein veritables Scherzo, das nach knackigen Dissonanzen in freundlichem G-Dur endet. Der letzte und gewichtigste Satz des Sextetts beginnt mit einem Rezitativ, einer deutlichen Anspielung an den späten Beethoven. Auch die folgende „Cavatina con variazioni“ erweist dem Jubilar Reverenz: Der „Cavatina“-Satz aus Beethovens Quartett op. 130 schimmert durch, zudem werden Motive aus dem a-Moll-Quartett op. 132 beinahe wörtlich zitiert, und manch grotesk-verspielte Quintole erinnert an Variationensätze wie jene aus op. 131 oder aus der Klaviersonate op. 111.
Über die Relevanz eines solch postmodernen Werks mag man trefflich streiten. Seine vielen Vorzüge indes können eine solche Diskussion schnell beenden. Olli Mustonens Sextett ist ein formal gelungenes, ideenreiches, streicheraffin komponiertes Stück, das guten Spieler:innen schlicht Spaß bereiten dürfte.
Gerhard Anders

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