Tüür, Erkki-Sven

Seventh Symphony/Piano Concerto

Rubrik: CDs
Verlag/Label: ECM 2341
erschienen in: das Orchester 06/2014 , Seite 73

Diese außergewöhnliche CD mit zwei sinfonischen Werken des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür (geb. 1959) begeistert durch ihre Originalität und Klangqualität, und sie wird den Hörer lange beschäftigen, denn hier ist ein Komponist am Werk, der wirklich etwas zu sagen hat.
Sein Klavierkonzert, komponiert 2006 und aufgenommen im Juni 2009 in der Alten Oper in Frankfurt am Main, lebt aus einer schier unerschöpflichen Vitalität und Klangfülle. Immer wieder rauschen Klangkaskaden durch das gesamte Klangspektrum des Flügels und des Orchesters. Das Klavier, hervorragend gespielt von Laura Mikkola, emanzipiert sich durch eigene Motive und Klanggesten vom flimmernden und vibrierenden Orchesterklang. Nicht nur die schillernde Orchestrierung Tüürs erinnert an Messiaen, sondern auch manche rhythmischen Gesten.
Besonders prägnant wird dies in den immer wiederkehrenden Tonrepetitionen des Flügels, die sich in ihrer asymetrischen Rhythmik wie ein zweites Thema, quasi als rhythmischer Kontrapunkt, immer wieder vom Orchester absetzen, um schließlich in den polyrhythmischen Bewegungsdrang des Tuttis hineinverwoben zu werden. Häufig bilden sich Akkordschichtungen aus Tritoni und reinen Quarten zu polytonalen Klangsäulen, die von flimmernden Klangkaskaden (Holzbläser, Harfe, Glockenspiel und Celesta) umspielt werden. Im dritten Abschnitt des Konzerts münden diese in eine Passage, in der der Flügel gemeinsam mit dem Bass und dem Schlagzeug im Stil des Modern Jazz spielt. Nach einem weiteren Kulminationspunkt klingt das beeindruckende Klavierkonzert lyrisch, in der naturmystischen Stimmung der Obertöne des Contra C aus.
Paavo Järvi zeigt sich als großer Kenner und Könner: Er führt das Frankfurter hr-Sinfonieorchester zu einem homogenen Gesamtklang, der Klangtransparenz in allen Orchestergruppen mit der gewünschten Klangopulenz fantastisch verbindet.
Die siebte Sinfonie wurde 2009 komponiert und im Juni 2010 im hr-Sendesaal eingespielt, ergänzt durch den NDR Chor (Einstudierung: Werner Hans Hagen). Sie trägt den Beinahmen Pietas und ist ein Tongedicht, welches den Menschen an die inneren Werte des Lebens erinnert. Klangschön singt der meist homofon geführte Chor das Motto „We are what we think“. Das Orchester steigert sich in abwärtsgehenden Melodielinien vom umfangreichen Schlagzeug unterstützt zu nahezu agressiven Clusterballungen, die Wut und Verzweiflung ausdrücken, bevor der Chor in ausdrucksstarken Gesangsmelismen zum polyfon gestalteten „Fill your mind with compassion“ ansetzt. Dieser letzte Abschnitt der Sinfonie ist ein elegischer Abgesang, wie wir ihn von Allan Pettersson kennen, von fast 20 Minuten Dauer. In ihm wird noch einmal ganz besonders die speziell von Erkki-Sven Tüür entwickelte Kompositionstechnik des „vektoriellen Schreibens“ erlebbar. Wie bei einer modernen Passacaglia entwickeln sich die mehr und mehr zunehmenden und sich verdichtenden Klangsäulen bis hin zu einer martialischen Wucht, welche noch nachwirkt, wenn der Chor zum lyrischen Ende hin „With our thoughts, we make the world“ gesungen hat.
Christoph J. Keller

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