Sergei Rachmaninoff

All-Night Vigil

MDR Rundfunkchor, Ltg. Risto Joost

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Genuin
erschienen in: das Orchester 01/2018 , Seite 72

Vor fast fünfzig Jahren setzte ein schwedischer Chorleiter namens Eric Ericson mit seinem Rundfunkchor eine Art Chormusik-Renaissance in Gang. Jedenfalls in Deutschland, wo der Soziologe Theodor W. Adorno in merkwürdig verbitterter Art, jedoch nicht ohne Erfolg versucht hatte, Chöre als „Musikanten“ abzuqualifizieren und ihr Tun in die Nähe von Nazi-Ritualen zu rücken. Ericsons Kassetten Europäische Chormusik aus fünf Jahrhunderten und Virtuose Chormusik jedenfalls rehabilitierten die gemeinschaftlich gesungene Musik. Sie führte hierzulande sogar zu einem Quantensprung bei der Qualität, bei Interpretationen mehr noch als – leider – beim Komponieren neuer Chormusik.Was Ericson nicht auf dem Schirm hatte, war Chormusik aus Russland. Vermutlich kannte er sie nicht, weil – hier greift die politische Konnotation viel eher als in Deutschland – die allmächtige Partei die bürgerliche oder gar geistliche Musikpflege nicht nach außen transportieren wollte. Hintertrieb vor der Revolution die orthodoxe Kirche geistliche Musik im Konzertsaal, beschränkte sich der sozialistische Realismus aufs „kulturelle Erbe“ und vor allem auf die Folklore. So durfte erst der Staatliche Akademische Chor der UdSSR die Vesper op. 37 von Sergej Rachmaninow aufnehmen. Unerhörte Klänge schallten einem da entgegen, feierliche Musik im Goldglanz von Ikonen, dunkelfarbig, weihrauchgeschwängert, gestützt von abgründigen Bässen, denen kein Fundament tief genug sein konnte.Erinnerungen an diese lange zurückliegenden Hörerlebnisse frischt der MDR Rundfunkchor in der vorliegenden Einspielung auf, der ersten unter Leitung seines estnischen Chefs Risto Joost. Die Klangkultur dieses größten deutschen Berufschors ist schier überwältigend. Sie vereint himmlische Leichtigkeit in der Höhe und erdenschwere Glut in der Tiefe – Rachmaninows auf liturgischen Gesängen basierende Musik sucht immer wieder den effektvollen Dialog dieser Welten. Ihr feierlicher Gestus hindert den Chor nicht daran, das Melodische durchaus schwungvoll zu betonen und sich vom Sprachgestus – man singt in russischer Originalsprache – leiten zu lassen. Die stimmliche Qualität der Sänger ermöglicht, gerade auch in den einstimmigen Passagen, optimale Homogenität und stets elastische Dynamik; selbst pianissimo behält der Klang seine Spannung, während forte als „erhabene Pracht“ verstanden, nie forciert wird. Im „Abendlob“, dem aus sechs Stücken bestehenden ersten Teil, halten die Chorsätze gerne meditativ inne; im anschließenden neunteiligen „Morgenlob“, das das Mysterium des ös­ter­lichen Geschehens ins Zentrum stellt, schwingt sich der Gesang zu visionärem Jubel auf, bisweilen dramatisch zugespitzt und emotional packend. Die Aufnahmetechnik unterschlägt nicht den für die Atmosphäre der Musik notwendigen Raumklang. Im Booklet (engl./dt.) informiert ein Text von Harald Hodeige umfassend über Geschichte und Rezeption dieser Musik, die Gesangstexte werden auch in kyrillischer Schrift abgedruckt. Fragt da noch jemand, wozu man Rundfunkchöre braucht? Für solche musikalische Sternstunden!
Andreas Bomba