Walter Gieseking

Serenade

für Streichquartett

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Schott
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 64

Parallel zu seiner Karriere als Interpret war der Pianist Walter Gieseking (1895-1956) zeitlebens bestrebt, auch als Komponist wahrgenommen zu werden. Neben einigen weiteren Kammermusikwerken wie der Kleinen Musik für drei Violinen (1941) und der Konzert-Sonatine für Violoncello und Klavier (1942) hat der Schott-Verlag unlängst die Serenade A-Dur (1943) für Streichquartett neu zugänglich gemacht. Partitur und Stimmen des dreisätzigen, spieltechnisch allerhöchstens mittelschweren Stücks wurden allerdings nicht neu gesetzt, sondern durch Rückgriff auf die beim Johannes Oertel Verlag Mainz erschienene Erstausgabe publiziert.
Wer sich bereits mit Kompositionen Giesekings auseinandergesetzt hat, der weiß, dass es sich dabei um handwerklich gut gemachte Musik handelt, die zwar im Wissen um die Ausdrucksmöglichkeiten des jeweils gewählten Instrumentariums geschaffen wurde, sich aber gelegentlich schwer damit tut, auf Distanz zu ihren musikalischen Vorbildern zu gehen. Im raschen Kopfsatz (Moderato) der Serenade ist dieses Manko besonders eklatant, da einzelne Passagen in harmonischer und melodischer Hinsicht wie punktuelle Entnahmen aus den späten Streichquartetten Antonín Dvořáks anmuten, ohne indes an deren satztechnische oder klangliche Raffinesse heranreichen zu können.
In der A-B-A-Form des Mittelsatzes prallen hingegen die Ausdruckshaltungen eines Presto-Teils (A) und eines Andante-Sicilianos (B) aufeinander, wobei sich stellenweise der befremdliche Eindruck ­eines harmonisch glattgebügelten Hindemith-Stücks einstellt. Das ­Finale (Allegro ma non troppo) schließlich huldigt einer rhythmisch geradlinigen und daher auf Dauer ziemlich uninteressanten Beschwörung volksmusikalisch eingefärbter Versatzstücke, bevor es in den letzten Takten noch einmal einzelne Motive aus dem Kopfsatz rekapituliert und damit einen Anspruch auf zyklische Abrundung formuliert.
Für mich erstaunlich ist weniger die Unselbstständigkeit und Naivität der gut dreizehnminütigen Komposition als der Umstand, dass man es von Verlagsseite nicht für notwendig erachtet hat, der Musik ein kommentierendes Vorwort beizugeben, um damit den historischen Kontext der Serenade zu erhellen.
Angesichts der Entstehungszeit und vor dem Hintergrund von Giesekings Verstrickungen in die nationalsozialistische Kulturpolitik ist der Verzicht auf diese Option eine unglückliche Entscheidung: Denkt man nämlich die Zeitgeschichte beim Hören mit, vermittelt die Musik – darin den wesentlich großformatigeren Werken von Giesekings Musikerkollegen Wilhelm Kempff vergleichbar – ganz unverstellt den Eindruck, als habe sich der Komponist mit dem Stück der offiziellen Ästhetik der Machthaber andienen wollen, indem er den heiteren Blick zurück mit verharmlosend eingesetzten Elementen einer von unerwünschten Ärgernissen bereinigten Moderne (siehe etwa Hindemith oder Bartók) verbindet. Und das hinterlässt dann doch einen unangenehmen Beigeschmack.
Stefan Drees