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Roland Dippel

Sendedebüt im Morgengrauen

Das MDR-Sinfonieorchester im erfolgreichen Großeinsatz an ungewohnter Stelle

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 02/2022 , Seite 38

Ein Schritt zurück in die Aufführungsmuster der goldenen Tage des Radios! Dieser Schritt machte am Morgen des 28. Oktober 2021 die über 70 Mitglieder des MDR-Sinfonieorchesters leicht nervös – nicht wegen des frühen Arbeitsbeginns um 6 Uhr, sondern vor allem aufgrund der aus der Zeit gefallenen Präsentationsform in der MDR JUMP Morningshow. Insgesamt waren etwa 45 Musikeinheiten für drei pausenlose Stunden vorgesehen. Weniger aufgeregt war der Dirigent Ulrich Kern, der ein erfahrener Kenner von Orpheus in der Unterwelt, der Fledermaus und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ist. Bei Stücken wie diesen gehören blitzschnelle Reaktionen und dramatisches Mitagieren bekanntermaßen zum unverzichtbaren Handwerk.
Die Herausforderung war immens: Das gesamte Team des seit Jahren erfolgreichen Formats kam mit Equipment und Technik in den Probensaal des MDR-Sinfonieorchesters am Leipziger Augustusplatz. Titel dieser Ausgabe: „Mit Pauken und Trompeten“. Mit dabei waren natürlich Sarah von Neuburg und Lars-Christian Karde, das in Mitteldeutschland berühmte und geliebte Moderatoren-Duo. Später freute sich MDR-Intendantin Karola Wille in einer Live-Schaltung über den Mix von Sport, Schlager, Aktuellem und – zum allerersten Mal – der Mitwirkung von Klassik-Experten. 20 Publikumsgäste und wenige Journalisten durften dabei sein. Man wollte eine Sendung wie früher, als Sprach- und Tonbeiträge noch live erzeugt wurden und vom Studiosaal direkt in den Äther gingen. Die Mitwirkung bei Live-Sendungen war – lang ist’s her – die Hauptaufgabe der Rundfunkorchester, welche durch den „Schnipselkram“ ihre Vielseitigkeit und Reaktionsschnelle zeigen konnten.
Aussagekraft über Anspruch und Leistung hatte die Liste aller Sprach-, Moderations- und Musikbeiträge: Für die drei Stunden waren 105 Programmeinheiten vorgesehen – mit Angabe der realen Uhrzeit, der Dauer jedes Einzelbeitrags und der vergangenen Gesamtsendezeit. Die häufigste Regieanmerkung für das MDR-Sinfonieorchester war: „Orchesterstück mit variabler Länge, wird nach Ende der Meldungen an passender Stelle beendet“. In einem „normalen“ Sinfoniekonzert wäre das so, als ob für jede Phrasierung, jeden weiteren Einsatz das Licht am Dirigentenpult anginge. Wichtige Aufgaben hatten auch die MDR-Teams von Ton und Schnitt. Anders als im 21. Jahrhundert, wo zum Teil kurzfristig vorproduzierte oder live eingespielte Beiträge über Verkehr, Wetter und Sport zugespielt werden, war in früheren Sendesaal-Zeiten ein genauer Ablaufplan nur für die Wechsel zwischen Moderationen und Musikbeiträgen nötig.
Gelassen, gut gelaunt und freundlich fanden Sarah und Lars, die diesen mitunter stressigen Flow bereits seit Jahren meistern und dabei authentisch wirken, sogar Zeit zu kleinen Flirts mit den anwesenden Fans. Was aus den Endgeräten kam, wurde an den Mischpulten zusammengeführt. Während das MDR-Sinfonieorchester spielte, prüften andere Mitwirkende, ob es im nächsten Block unvorhergesehene Änderungen gab. Man reagierte untereinander auf Sicht, Nicken, Gesten – oder Lichtzeichen. Das MDR-Sinfonieorchester spielte mehrfach länger, als es auf Sendung war. Die Übergänge zwischen den Beiträgen sind Präzisionsarbeit.
„Die Live-Einsätze waren weitaus weniger kompliziert, als wir bei den Proben dachten“, rekapitulierte Michael Gühne, Zweites Horn und Orchestervorstand, nach geschlagener Sendeschlacht und Danke-Rufen des Tons um 9.15 Uhr. Einige Mitwirkende scharten sich im Vorraum, um mit Kaffee und Orangensaft zu feiern. Nicht lange, denn für viele begann am nächsten Morgen kurz vor 6 Uhr die nächste Runde. „Das ist der Ausgangspunkt zu mehreren neuen Perspektiven innerhalb des MDR, deren Potenzial und Machbarkeit wir nach der Auswertung prüfen werden“, konstatiert Karen Kopp, Managerin des MDR-Sinfonieorchesters. Es gibt noch so viele Möglichkeiten, wie sich das Orchester neben Konzerten und Aufzeichnungen in anderen Programmschemata präsentieren kann.
Das Programm selbst war abwechslungsreich: 30 Mikrokompositionen mit Bezug zu Mitteldeutschland waren im Herbst 2021 aus 140 Einreichungen ausgewählt und in den letzten Monaten von MDR-Sinfonie­orchester und MDR-Rundfunkchor in Leipzig produziert worden. Wie die in Leipzig lebende Dirigentin Eva Meitner mit ihren Miniaturen-Streamings hatte man auch beim MDR festgestellt, dass das Zeitalter der Handytöne und Jingles auch für Kollektive mit Konzentration auf Klassik neuartige relevante Nischen eröffnet.
Nicht umwerfend neu, aber originell klangen neben dem von dem Bratscher Sebastian Hensel arrangierten „Schnipselkram“ die ebenfalls von ihm für sinfonische Besetzung eingerichteten Songs. Recht glatt gerieten trotz physischer Präsenz der Schweizer Popsängerin Stefanie Heinzmann der Song All We Need is Love aus ihrem 2019 veröffentlichten Album und Build a House. Tanz und Gesang waren für das Sendepublikum garantiert eindrucksvoller als im Saal, zumal Heinzmanns Auftritt eher für große Foren mit Light- und Soundshows als für mediale Nahaufnahmen und reale Nähe konzipiert ist.
Zum ästhetischen Reibungsspiel wurde die Begegnung der beiden anderen Sänger mit dem Orchester. „David Bowie, Amy Winehouse, auch das Beste geht vorbei – du und ich, wie im Traum, ich will, dass es ewig bleibt“, sang Bosse, der mit einem Titel wie Krumme Symphonie Spagate zwischen Melancholie, Nostalgie und schmerzfreier Ironie vollzieht. Ganz klar gab es da durch die Orchestrierung anstelle der originalen Drum- und E-Gitarren-Sounds atmosphärische Akzentverschiebungen. Erst recht bei dem belgischen Sänger Milow, dessen Assoziationen zur Carmen-Habanera in ASAP nach der klassisch geschulten Umhüllung seiner soften wie prägnanten Stimme schreien. Das Ergebnis klang weniger forsch als im offiziellen Video. Möglicherweise machte die sich von beiden Seiten herantastende akustische Tuchfühlung nicht nur das MDR-Sinfonieorchester, sondern auch den Star vorsichtiger. Immerhin hatten die im Probesaal Anwesenden inklusive der beliebten Moderatoren das seltene Privileg, ASAP mit Milows Stimme ohne elektroakustische Verstärkung über 70-köpfiger Edel-Band zu erleben. Wo bekommt man das sonst?

 

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