Toshio Hosokawa
Sen VI
for percussion
Zwei Bongos, zwei Congas, eine sehr große Trommel und ein Cymbal antique sind die Instrumente in Toshio Hosokawas Schlagzeugsolokomposition Sen VI aus dem Jahr 1993. Das ist ausgesprochen wenig Material für ein zwölfminütiges Schlagzeugstück, bei anderen Komponist:innen geraten die perkussiven Aufbauten viel umfänglicher.
Auf den ersten Blick scheint Sen VI, eines von sieben gleichnamigen Solostücken für verschiedene Instrumente aus den Jahren 1984 bis 1995, ein leicht spielbares Stück zu sein, geprägt von vielen einzelnen Schlägen und langen Pausen bei großen dynamischen Gegensätzen. Aber ähnlich wie bei den Klaviersonaten Mozarts, die dem Bonmot nach für Laien zu leicht und für Profis zu schwer sind, steckt die interpretatorische Herausforderung bei den Werken Hosokawas nicht so sehr in der Spieltechnik, sondern in der nachvollziehenden Gestaltung der grundlegenden kompositorischen Ideen.
Toshio Hosokawa gehört zu den wichtigsten japanischen Komponisten, sein Œuvre umfasst nahezu alle Genres, von der Kammermusik über Oper bis zu Orchesterwerken. Erst nach langem Studium der europäischen Musik wandte er sich – angeregt wohl vor allem durch seine Kompositionslehrer Isang Yun und Klaus Huber – der traditionellen asiatischen Musik mit ihrem ganz anderen Musikverständnis zu. In der japanischen Musik ist der einzelne Ton nicht nur als Teil eines Ganzen (z.B. eines Akkords) von Bedeutung, sondern er wird immer individuell und mit höchster Delikatesse ausgeformt und differenziert. Aus den einzelnen Tönen und Gesten, mitunter durch lange Pausen getrennt, erwachsen weiträumige musikalische Landschaften: Es ist, als wenn man langsam durch einen Garten ginge – so beschrieb Hosokawa einmal seine Musik.
Vor diesem Hintergrund ist Sen VI eines der tiefgründigsten Werke der Schlagzeugliteratur, das bei einer herausragenden Interpretation zu einer extrem intensiven Hörerfahrung werden kann.
Eine mittlerweile 30-jährige Interpretationsgeschichte mit Sen VI hat der japanische, an der Musikhochschule Karlsruhe lehrende Schlagzeuger Isao Nakamura, der das Werk für ein Solokonzert bei den Berliner Festwochen in Auftrag gab und dort auch uraufführte. Bereits damals arbeitete er eng mit Toshio Hosokawa zusammen, er ist der ideale Reiseführer durch die (Klang-)Landschaften dieses Stücks. Von der Choreografie der Eingangsschläge über die spannungsvolle gestische Gestaltung der Pausen, die energetischen Explosionen bis zu den klanglichen Spezialeffekten auf Congas und Bongos – in seiner im Lauf der Jahrzehnte kontinuierlich gereiften Interpretation verschmilzt Nakamuras künstlerische Persönlichkeit mit der Komposition.
Höhepunkt seiner Aufführungen ist stets der Improvisationsteil in der Mitte des Werks, in dem er nach den detaillierten Vorgaben des Komponisten ein groß angelegtes Crescendo gestaltet – zu erleben u.a. in einem Konzertmitschnitt aus der Kölner Philharmonie bei Youtube oder hoffentlich bald einmal wieder bei einem echten Konzert.
Stephan Froleyks