Alessandro Scarlatti

Sedecia, Re di Gerusalemme

Alessandra Capici/Rosita Frisani (Sopran), Amor Lilia Perez (Alt), Mario Cechetti (Tenor), Marco Vinci (Bass), Alessandro Stradella Consort, Ltg. Estévan Velardi

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Brilliant Classics 95537
erschienen in: das Orchester 02/2019 , Seite 64

Als Leiter des Stradella Consorts hat sich der in Bari lehrende Estévan Velardi nicht nur einen Namen als Musiker gemacht, sondern auch als Musikhistoriker, der unermüdlich Schätze des 17. und 18. Jahrhunderts ausgräbt, was 2004 in der Entdeckung und Aufführung von Stradellas Oper La Doriclea gipfelte.
Die Einspielung des vorliegenden Werks ist auch hier nicht nur allein der Begeisterung für die Musik geschuldet, sondern ebenso dem musikgeschichtlichen Kontext, der Geschichte des Oratoriums. Der paradramatischen Form eines geistlichen Melodramas, Gegenstück zur „verbotenen Frucht“ der weltlichen Oper, frönten im Rom des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts musikliebende Kleriker. Ein päpstliches Edikt von 1706 stellte das Aufführen von Bühnenmusik unter schwere Strafe. Und so avancierte das Oratorium zum dramatischen Schlupfloch in der Kirchenmusik.
Scarlattis Werk fällt genau in diese Epoche, Sedecia wurde 1705 erstmalig in Urbino aufgeführt. Kardinal Ottoboni, angesehener Kunstförderer, der sich ein hölzernes Theater in seinem römischen Palast leistete, ließ es dort wiederholen. Er war auch der Widmungsträger des Oratoriums, der als „Genius von Rom“ in denkbarem Gegensatz zur tragischen historischen Figur des Zedekia konstruiert wurde.
Als Urbild eines stolzen Marionettenkönigs besiegelt Zedekia den Untergang Judäas und muss erdulden, wie sein Sohn Ismaele vor seinen Augen von Nebukadnezar ermordet und er selbst anschließend geblendet wird. Die Handlung beginnt mit dem Aufstand Judäas gegen Babylon, mit der aufflammenden Euphorie einer Siegesgewissheit, die bereits im Keim erstickt wird und tragisch endet. Wie auch in der Oper gliedert sich das Oratorium in Sinfonien, Rezitative und Arien, die von martialischen bis zu flehenden Tönen reichen. Von besonderer musikalischer Bedeutung ist der dramatische Höhepunkt, als Ismaele von Nebukadnezar getötet wird. Der Sohn begegnet dem Babylonier trot­zig mit einer Replik, die aus dem ersten Teil des Oratoriums stammt und von der Mutter gesungen wurde, ein Kunstgriff, der einen stringenten Werkzusammenhang stiftet.
Andererseits erscheint der Tod Ismaeles in Form der Da-capo-Arie dramaturgisch fast absurd, was aber nicht die musikalische Schönheit schmälert, ganz im Gegenteil. Gerade der A-Teil der Arie überzeugt musikalisch besonders im dynamischen Zusammenspiel von Stimme und Instrumenten bei der Wiederkehr. Das darauffolgende Duett der Trauer von Sedecia und seiner Frau Anna macht nochmals deutlich, dass es sich hier nicht nur um ein historisches Dokument von Musikgeschichte handelt, sondern um wundervolle Musik, die mit Hingabe und Professionalität aller Beteiligten eingespielt wurde.
Alessandro Scarlatti ist vielleicht nicht der eingängigste unter den italienischen Komponisten dieser Zeit, seine Individualität aber lässt die kompositorischen Feinheiten des Zeitalters hervortreten. Das ausführliche und dabei fesselnde Programmheft gibt dem ganzen Projekt einen besonderen Schliff.
Steffen A. Schmidt