Johann Sebastian Bach
Sechs Suiten für Violoncello solo BWV 1007–1012
Quellenkritische Edition in drei Bänden von Jonas Seeberg, Spielpartituren I & II sowie Textband und Kritische Partitur
Ist zu den Cello-Suiten Johann Sebastian Bachs editorisch nicht „alles gesagt“? 1824 erschien in Paris die erste Druckausgabe, seither wurde den Werken viel herausgeberische Aufmerksamkeit zuteil. Nach manch romantisierendem Wildwuchs gab in den vergangenen Jahrzehnten das Bemühen um einen von Fehlern und Willkürlichkeiten bereinigten Urtext den Aktivitäten zusätzlichen Schub. Das Hauptproblem: Anders als im Fall der Sonaten und Partiten für Violine solo existiert kein Bach’sches Autograf. Infolgedessen sind alle, die sich mit der Thematik beschäftigen, herausgefordert, die Abschriften zu studieren und zueinander in Beziehung zu setzen.
Allein der Bärenreiter-Verlag legte mit den Editionen von Hans Eppstein, Bettina Schwemer/Douglas Woodfull-Harris und Andrew Talle drei Texte vor, denen ausführliche quellenkritische Diskussionen zu Grunde liegen und die mithin dem Urtext-Anspruch gerecht werden. Eine weitere Urtext-Ausgabe, ediert von Ulrich Leisinger, erschien in der Universal Edition. Bietet, gemessen an diesen Ausgaben, die vorliegende Edition neue Erkenntnisse?
Eindeutig ja! Jonas Seebergs Ziel ist eine neue Sicht auf den Artikulationstext: In puncto Bogensetzungen sind die Differenzen innerhalb der Hauptquellen mannigfaltig. Die Editoren kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Frage, welche Abschrift auf welche Quelle zurückgeht. Worauf basiert die Anna-Magdalena-Abschrift (Quelle A), worauf diejenige des Bach-Schülers Kellner (Quelle B)? Gab es eine gemeinsame Grundlage?
Seeberg zufolge existierten zwei Autografe Bachs. Im Unterschied zu allen bisherigen Editionen unternimmt Seeberg den Versuch, auf der Basis insbesondere der Quellen A und B die mutmaßlichen Originalmanuskripte Bachs zu rekonstruieren, wobei er der Kellner-Version eine höhere Bedeutung beimisst als die meisten anderen Editoren. Seebergs Ansatz ist gewagt, darf jedoch als gelungen betrachtet werden, denn er stützt sich auf musikwissenschaftliche Akribie, intensives Studium der Handschriften und frühen Drucke sowie zahlreiche Querverweise zu anderen historischen Quellen.
Die beiden Spielpartituren sowie die Kritische Partitur bieten Texte der Cellosuiten, wie es sie bisher noch nicht gab. Anstelle manch gut gemeinter Anpassung und (vermeintlicher) Analogien, wie wir sie aus früheren Editionen kennen, begegnen uns hier bisweilen Brüche und „Ungereimtheiten“, die durchaus den rhetorischen Prinzipien der Klangrede geschuldet sein können und mithin Bachs Ur-Absichten nahekommen. Trotz des umfangreichen theoretischen Begleit-„Apparates“ fühlt man sich als Spieler dieser Ausgabe frei und inspiriert. Druckbild und Seitenformat sind im Übrigen so gewählt, dass selbst die umfangreichen Sätze ohne Wendestellen auskommen. Eine formidable Publikation!
Gerhard Anders