Filippo Finazzi
Sechs Sinfonien für zwei Violinen, Viola und Basso continuo
Partitur, hg. von Jürgen Neubacher
Beschränkte sich bis zu den 1980er Jahren das Repertoire der Barockmusik auf einige wenige Komponistennamen, vor allem auf Vivaldi, Bach und Händel, und war die Generation danach, die man diffus der Empfindsamkeit oder der Vorklassik zuordnete, zumeist ein weißer Fleck, so wurden vor allem im Gefolge der Historischen Aufführungspraxis viele weitere Komponist:innen dieser Zeit entdeckt. Doch wenn man glaubt, dass nun, vier Jahrzehnte später, alle aufführungs- und hörenswerten Komponis:innen bekannt und auf CD festgehalten sind, ist das ein Irrtum. Dies zeigt die neue Notenausgabe der Sinfonien von Filippo Finazzi, der zwar wegen seiner Lebensgeschichte in den letzten Jahren öffentliche Aufmerksamkeit erregte (er war Kastrat und erhielt dennoch in Hamburg die amtliche Heiratserlaubnis), dessen Musik aber bislang eher unbekannt war.
Ein erster Blick auf die Partitur lässt den Verdacht aufkommen, dass seine Sinfonien eine ziemlich einfache Musik sind: Erste und zweite Violine werden über weite Stecken unisono geführt, dazu kommen eine schlicht gehaltene Bratschen-Mittelstimme und der Generalbass. Man kann da schon ins Zweifeln kommen, ob es Sinn macht, eine solche Musik heute wieder auszugraben. Doch wenn man die Sinfonien spielt, lässt die Schönheit, emotionale Tiefe und die Eleganz der Melodien aufhorchen. Technisch sind die Werke sicherlich von einem Schulorchester zu bewältigen, doch die Artikulation stellt hohe Anforderungen. Die beiden Violinstimmen „singen“ bel canto. Finazzi schreibt insbesondere in den langsamen Sätzen die Verzierungen, die er als Kastrat improvisieren konnte, aus. Synkopen, Wechsel des Schwerpunkts, große Sprünge oder auf der kurzen Note zu betonende anapästische Figuren lassen eine an Gefühlsschattierungen reiche Melodik entstehen. Der andere Grund, warum die auf den ersten Blick einfach erscheinende Faktur täuscht, ist der Generalbass, der mit vielen Feinheiten gespickt ist und die Melodie klanglich intensiviert. Die Schlusssätze der Sinfonia I in G und IV in C sind fugenartig. Hier hat offenbar Finazzi der norddeutschen Tradition seinen Tribut erwiesen.
Jürgen Neubacher gibt mit der von ihm erarbeiteten Neuausgabe Musiker:innen ein Notenmaterial in die Hand, das heutigen Ansprüchen in quellenkritischer und aufführungspraktischer Hinsicht bestens genügt. Im Vorwort informiert er ausführlich über den biografischen und musikgeschicht- lichen Hintergrund. Die Notenausgabe hält sich an den Urtext und macht kenntlich, was vom Herausgeber hinzugefügt oder verändert wurde.
Laien- und Schulorchester werden beim Einstudieren und Spielen von Finazzis Sinfonien viel Freude haben, und professionelle Barockensembles können mit dieser bislang für das Konzertleben unentdeckten Musik ihr Publikum faszinieren.
Franzpeter Messmer