Algirdas Martinaitis

Seasons and Serenades

Works for String Orchestra. Rūta Lipinaitytė (Violine), Asta Krikščiūnaitė (Sopran), St. Chris­topher Chamber Orchestra, Ltg. Modestas Barkauskas

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Ondine
erschienen in: das Orchester 9/2022 , Seite 68

Algirdas Martinaitis, Jahrgang 1950, zählt – zusammen mit Mindaugas Urbaitis (geb. 1952), Vidmantas Bartulis (1954-2020) und der ersten litauischen Komponistin Onutė Narbutaitė (geb. 1956) – zu jener Generation damals junger ­litauischer Komponisten, die um 1980 die neominimalistische, neoromantische, neofolkloristische und nicht zuletzt ökologische Richtung der Neuen Musik in Litauen bestimmten. Inzwischen enthält Martinaitis’ Ästhetik auch Parodie und sogar Sarkasmus, sein Kompositions-Handwerk ist erstklassig. Die litau­ische Musiktradition, in der er fest verankert ist, hinterfragt er durch Elemente aus der gesamteuropäischen Tradition – die dadurch ihrerseits in Zweifel gezogen wird.
Endlich gibt es jetzt eine CD mit sechs Werken von Algirdas Martinaitis für Streichorchester, seinem bevorzugten Klangkörper. Der zeitliche Bogen spannt sich dabei von dem Meisterwerk Rojaus paukščiai („Vögel des Paradieses“) für vier elektrische Violoncelli von 1981 in der Fassung für Streichorchester von 2016 bis zu Martinaitis’ nostalgischer Valse triste für Sopran und Streichorchester von 2020, letztere auf einen Text des litauischen Dichters Oscar Vladislas de Lubicz Milosz (1877-1939), der in Paris lebte und in französischer Sprache schrieb.
Besonders charakteristisch erscheint die Serenada panelei Europa („Serenade für Fräulein Europa“, 1999) für Streichorchester, in welcher herrlich sinnfreie Schlusswendungen zu Passagen von fast verzweifelter Schönheit führen, einschließlich einer übermütigen Anspielung auf die Marseillaise – und kurz vor dem Ende müssen die Ausführenden sogar mitsingen.
Das spannendste und mit fast 22 Minuten Spieldauer längste Werk der Silberscheibe ist aber gleich das erste, Trijų m’art komedijų sezonai („Die drei M’art Komödien-Jahreszeiten“, 2014) für Violine und Streichorchester. Als „Paten“ fungieren darin in den Ecksätzen die Commedia dell’arte und vor allem Antonio Vivaldi sowie im mit „Ballett-Komödie“ überschriebenen Mittelsatz Peter Tschaikowsky und der frühe Dmitri Schostakowitsch. Erwähnt werden müssen noch die beiden übrigen Werke, in denen zum Streichorchester jeweils noch ein Tasteninstrument hinzukommt, nämlich ein Cembalo in Artizarra (2001) und ein Klavier in der weiteren Milosz-Vertonung Chant de la lointaine (2014).
Das St.-Christopherus-Kammerorchester ist das städtische Orchester der litauischen Hauptstadt Vilnius, deren Stadtheiligen es geweiht ist. Mit der Musik von Martinatis ist das Orchester längst bestens vertraut, auch unter Leitung seines neuen und jungen Chefdirigenten Modestas Barkauskas. Sehr gut sind auch die beiden Solistinnen – die Geigerin Rūta Lipinaitytė und die Sopranistin Asta Krikščiūnaitė –, wobei es perfekt passt, dass das Französisch der Sopranistin einen leichten litauischen Akzent hat.
Ingo Hoddick