Harneit, Johannes

Schwingen für Orchester

Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Sikorski, Hamburg 2004
erschienen in: das Orchester 10/2004 , Seite 83

In diesem Orchesterstück – Besetzung: Flauto piccolo (anche Flauto grande), Flauto grande, Oboe, Corno inglese, Clarinetto in Es, Clarinetto in A, 2 Fagotti, 2 Corni in F, 2 Trombe in C, Timpani, 14 Violini, 4 Viole, 4 Violoncelli, 2 Contrabassi – ist jeder Orchestermusiker Solist. Vor allem die Vielzahl der Streicher ist auffällig, sie fächern sich weit auseinander. Die Streichergruppe wird fast zu einem eigenen großen Saiteninstrument, jeder Spieler zu einer Saite.
Schwingen: Klänge und Zusammenklänge schwingen ein und aus, aus und ein. Grenzen zwischen einem Formteil und einem sich weit ausdehnenden Zusammenklang verschwimmen. Oftmals beansprucht die Notation eines bewegten Klangs mehrere Partiturseiten. Klangräume geraten in Bewegung, ins Schwingen: Bewegungen des Atmens und Pulsierens, Gesten des Sich-Zusammenziehens und des Sich-Ausdehnens werden durch dynamische Bewegungen und durch Tempomodifikationen unterstützt. Klang baut sich auf, staut sich, wird dann wieder freigelassen, stockt erneut. Und solche Bewegungen des Auf- und Abbaus, die durch unterschiedliche Arten der Instrumentation, durch wechselnde Dynamik und durch Temposchwankungen zustande kommen, verlaufen durchaus nicht immer geradlinig.
Im Kleinen findet sich die Schwingbewegung wieder. Auch einzelne Klänge innerhalb einer Stimme bauen sich auf und wieder ab, verbinden sich auch zu Klangfolgen, die in der Glissandobewegung oder in der schnellen Bewegung zu einer Girlande verschmelzen. Charakteristisch ist das Glissando, das bereits im ersten Takt in den Streicherstimmen, später dann immer wieder neu zu finden ist und als einzelne Geste motivische Kraft gewinnt.
Der einzelne Spieler wird gefordert, nicht in erster Linie hinsichtlich seiner instrumentaltechnischen Fähigkeiten (diese werden vorausgesetzt, ohne dass Schwingen als überaus schwieriges, nur schwer zu bewältigendes Stück gelten müsste), sondern viel eher hinsichtlich seiner Aufmerksamkeit, seiner aktiven Teilnahme. Das Stück verlangt von jedem Einzelnen, dass er mithört, die Stimmen durchhört, seine Stimme in den Gesamtklang hineinhört und gestaltet.
Aufgrund der sehr unterschiedlich gestalteten einzelnen Abschnitte, die unmittelbar ineinander übergehen (das Orchesterstück ist einsätzig), ergibt sich ein heterogenes Bild. Dem Hörer werden immer wieder andere Möglichkeiten des Schwingens gezeigt. Das einigende Band, das die unterschiedlichen Klangflächen und -räume zusammenhält, ist die Idee der Schwingbewegung.
Kaum zu überhören und zu übersehen sind die Anspielungen in Schwingen: Musik spielt an auf Musik, Musik gibt sich als Anklang an Musik. Der Hörer und auch der Leser der Partitur glaubt nicht selten, bekannte Musik
wiederzufinden. Andere Musik schwingt mit, Musik der näheren oder der weiter entfernten Vergangenheit. So gibt sich das Orchesterstück manchmal fast plakativ, wenn es zeigt, was es alles gab und gibt.
 
Eva-Maria Houben