Bostridge, Ian

Schuberts Winterreise

Lieder von Liebe und Schmerz

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C. H. Beck, München 2015
erschienen in: das Orchester 03/2016 , Seite 67

Es ist ja keineswegs so, als ob nicht bereits vielfältigste Abhandlungen über den Liederzyklus Winterreise von Franz Schubert und Wilhelm Müller existieren würden. Dennoch hat der aus Großbritannien stammende Sänger Ian Bostridge jetzt ein weiteres, umfangreiches Buch dazu vorgelegt: Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz, erschienen bei C. H. Beck. Nach seiner eigenen Einschätzung bildet der Zyklus innerhalb seines Repertoires das möglicherweise am häufigsten aufgeführte Werk.
Der Leitgedanke des Buchs besteht darin, das dem Liederzyklus zugrunde liegende Phänomen der Entfremdung herauszuarbeiten. Und obwohl die Winterreise natürlich viele mögliche Deutungsebenen besitzt, liegt hierin sicherlich einer der zentralen Punkte. Bostridge folgt der Chronologie der 24 Lieder, nach denen auch die Kapitel gegliedert sind, um den Weg der Entfremdung des Wanderers – also des „Helden“ der Geschichte – nachzuzeichnen: die Entfremdung von seiner Liebsten, von ihrer Familie, von der Gesellschaft und, ganz buchstäblich, von Gott und der Welt. Dabei beschreibt er die einzelnen Stücke hinsichtlich ihrer musikalischen wie textlichen Besonderheiten, erläutert Wissenswertes zum Entstehungshintergrund, zum historischen, politischen sowie weltanschaulichen Kontext und stellt auch zahlreiche Bezüge zu anderen Kunstwerken aus Musik, Literatur und bildender Kunst her, die das Verständnis der Winterreise vertiefen. So werden auf den gut 400 Seiten, die übrigens durch zahlreiche Abbildungen und kleine Partiturauszüge aufgelockert werden, nicht nur die Biografien und andere Werke Schuberts und Müllers beleuchtet, sondern es tauchen auch Lord Byron, Goethe, Caspar David Friedrich, Sigmund Freud und viele andere auf.
Dem, der sich schon ausführlicher mit der Winterreise befasst hat, dürften einige der von Bostridge ausgeführten Details bereits bekannt sein; auch fällt der eine oder andere Exkurs vielleicht etwas weitschweifig aus, beispielsweise wenn es um Schuberts sexuelle Orientierung oder die Beschreibung bestimmter Gemälde geht. Doch viele Themen geben wahrscheinlich selbst ausgesprochenen Winterreise-Fans neue Einblicke, etwa die Erläuterungen zu der Figur des Köhlers, die dem Autor zufolge für den Untergang eines Handwerksberufs „durch den rauen Wind des sozioökonomischen Wandels“ steht. Sehr wertvoll: Bostridges Hinweis auf den der Winterreise zugrunde liegenden sozialen Unmut – und seine Frage, was wir, ihre Rezipienten, denn heute aus dieser Botschaft machen würden.
Äußerst interessant lesen sich natürlich auch Bostridges Berichte von eigenen Erfahrungen mit der Winterreise: von unterschiedlichen Aufführungsorten, den Reaktionen seines Publikums oder von verschiedenen musikalischen Partnern, mit denen er an ihr gearbeitet hat. Auch interpretatorische bzw. aufführungspraktische Fragen werden immer wieder erörtert. Insgesamt ein erhellendes, abwechslungsreiches und sehr empfehlenswertes Buch!
Julia Hartel

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