Gruber, Gernot
Schubert. Schubert?
Leben und Musik
Der Titel dieser Neuerscheinung ist etwas widerborstig. Doch Gernot Gruber, der emeritierte Wiener Musikhistoriker, hat ihn mit Bedacht gewählt, was der Reihe nach erläutert sei. Zunächst: Es steckt tatsächlich eine Menge Schubert in diesem Buch. Die ersten knapp 200 Seiten geben eine Übersichtsdarstellung zu Franz Schubert, die sich an das traditionelle
Leben und Werk-Schema anlehnt. Sie ist sehr informativ wer allerdings einen Schubert für Einsteiger braucht, ist an der falschen Adresse. Nach einer Zeittafel, einem Werkverzeichnis oder auch Notenbeispielen sucht man vergebens, an Faktenwissen wird viel vorausgesetzt.
Gruber geht es um anderes, er umreißt (damit kommt der gewichtige Schubert?-Aspekt ins Spiel) eine kritische Biografie. Mit der Haltung des nüchternen Historikers hinterfragt Gruber, was er für einen falschen Common Sense in Sachen Schubert hält: gängige Bilder und Interpretationen, die nicht selten auf verklärende Erinnerungen der Freunde, aber auch auf (leider oft namenlos bleibende) Musikforscher unserer Tage zurückgehen. Da Gruber nicht nur Fragwürdigkeiten und biografische Lücken benennen, sondern auch selbst letztlich zu einem Bild Schuberts samt einer Art Psychogramm kommen will, ohne spektakulär neue historische Quellen zur Hand zu haben, ist natürlich auch er auf Mutmaßungen angewiesen. Deren höhere Plausibilität wäre zu diskutieren doch wohltuend ist allemal, dass Gruber hier wie im ganzen Buch mit offenen Karten spielt, das heißt sein eigenes Tun mit einem expliziten methodischen Räsonnement begleitet.
Bei der Beschäftigung mit Schuberts uvre spielt der nüchtern kompositionstechnische Befund nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen stellt Gruber einerseits wiederholt gute Überlegungen zu Gattungsentwicklungen und -strategien an. Andererseits wagt er sich im zweiten Teil des Buchs an die Fragen, ob sich ein Wesen Schuberts und ein zentraler
Gehalt in seinem Komponieren ausmachen lassen. Diese zweite Frage, im Blick auf die auch insgesamt dominierende Vokalmusik angegangen, entwickelt sich zu einer ambitionierten rezeptionsästhetischen Abhandlung, in der zwei Modelle durchgespielt werden. Ein Rezipient, so Gruber, kann musikalischen Gehalt erfahren auf der vor- oder auch nachbegrifflichen Ebene des Hör-Empfindens. Er kann einen erspürten Gehalt jedoch auch mit Begriffen verdichten, und hierfür böten sich bei Schubert die Kategorien Utopie, Nihilismus und deren Antithetik an, die sich alle aus Schuberts autobiografischem Text Mein Traum gewinnen lassen.
Damit wird die Leben und Musik-Wechselwirkung virulent, deren Reflexion das Buch wie ein dritter roter Faden durchzieht. Man kann ganz unterschiedlicher Meinung darüber sein, wie drängend die Leitfragen des zweiten Teils im Umgang mit Schuberts Musik sind und zu welcher Art von Verbindlichkeit man bei ihrer Beantwortung gelangen kann. Außer Frage steht aber, dass Gernot Gruber hier einen neuen methodischen Standard gesetzt hat, an dem sich die künftige Forschung zu messen hat.
Thomas Gerlich