Kolbe, Corina

Schnittstelle

In der Lucerne Festival Academy werden angehende Musiker an zeitgenössische Musik herangeführt

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 11/2009 , Seite 42

Bläserklänge dringen aus einem Gebäude der Luzerner Musikhochschule, die auf einem Hügel hoch über der Stadt und dem Vierwaldstättersee liegt. Der Komponist Jörg Widmann probt dort mit Studenten, er will einen Bogen von Schumann über Berg zu seinem eigenen Werk schlagen. Angehende Musiker näher an zeit­ge­nössische Musik heranzuführen, ist das Ziel der Lucerne Festival Academy, die seit 2004 alljährlich unter Leitung von Pierre Boulez stattfindet.
Auch im Sommer 2009 hat das Festival wieder 130 Nachwuchsmusiker aus aller Welt eingeladen, im Akademie-Orchester zu spielen. Unterstützt von Boulez und Solisten des Ensemble Intercontemporain beschäftigen sie sich drei Wochen lang eingehend mit Klassikern der Moderne und Kompositionen der unmittelbaren Gegenwart. Erstmals sind auch Experten des Pariser Forschungsinstituts IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) dabei, denn die Akademie widmet sich in diesem Jahr speziell dem Umgang mit Live-Elektronik.
Boulez, einer der größten Komponisten und Dirigenten unserer Zeit, sieht das zeitgenössische Repertoire an Hochschulen nach wie vor stark vernachlässigt. Studenten sollten sich viel mehr mit dieser Musik und ihren Schöpfern auseinandersetzen, ohne die Tradition aus dem Blick zu verlieren, fordert der 84-Jährige, dessen komplexe Raumkomposition Répons für Solisten, Ensemble, Computerklänge und Live-Elektronik diesmal in Luzern besonders im Fokus steht. Die Musikkultur kann sich seiner Ansicht nach nur weiterentwickeln, wenn Zeitgenössisches nicht nur auf einen kleinen Kreis von Spezialisten begrenzt bleibt.
Die hohe Zahl von Bewerbungen zeigt dem Festival, dass auch den jungen Musikern die Mängel in ihrer Ausbildung durchaus bewusst sind. Zur Neuen Musik sei sie eher zufällig gekommen, erinnert sich die Kontrabassistin Margarethe Maierhofer-Lischka, die zurzeit in Rostock bei Silvio Dalla Torre studiert. Kommilitonen, die selbst komponierten, hätten sie gefragt, ob sie nicht auch mal ihre Stücke spielen wollte. Die 25-jährige Regensburgerin, die bereits zum zweiten Mal an der Festival-Akademie teilnimmt, freut sich wieder auf die intensive Arbeit mit Boulez, der nicht nur Konzerte, sondern auch alle Proben mit den Studierenden leitet. „Ich habe das Gefühl, dass er beim Dirigieren sein breites musikalisches Wissen über seine Hände direkt an uns weitergibt“, schwärmt die Musikerin.
Wie Maierhofer-Lischka hat auch der westfälische Posaunist Daniel Steppeler in mehreren Jugendorchestern gespielt, bevor er an die Hochschule in Detmold kam. Neue Musik müsse gut nach außen vermittelt werden, um ein größeres Publikum zu erreichen, sagt der Student, der neu im Akademie-Orchester ist. Er bevorzugt Konzerte, in denen Stücke aus der Gegenwart mit älteren Werken kombiniert werden. „Ansonsten ist das zu viel schwere Kost auf einmal“, mein­t er. „Denn Neue Musik sprengt doch so manche Hörgewohnheiten.“ Das Repertoire der Akademie-Konzerte ist breit gespannt, es reicht von Janác?ek und Debussy über Berg, Varèse, Berio und Boulez bis zu Widmann und der Finnin Kaija Saariaho, den beiden Composers in Residence.
Das Festival-Motto „Natur“ fordert dazu heraus, Musik in ihrem Spannungsverhältnis zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit zu begreifen. „Wird ein Ton, den ich durch Live-Elektronik verändere, unnatürlich? Wenn ja, wo verlaufen dann die Grenzen?“ Beim Experimentieren mit Musik könnten die Studenten sicherlich Antworten auf diese Fragen finden, meint Katharina Rengger, die verantwortliche Managerin der Festival-Akademie.
Zufrieden stellt Rengger fest, dass sich die Akademie nicht zuletzt durch die Mundpropaganda ehemaliger Teilnehmer international einen hervorragenden Ruf erworben hat. Um in Luzern ein breites Publikum anzusprechen, bietet das Festival allen Interessierten an, öffentliche Proben und Workshops zu besuchen. „Im vergangenen Jahr kamen rund 600 Besucher zu einem Meisterkurs von Boulez für Dirigenten. Das ist eine enorme Zahl“, so Rengger. „Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Neue Musik nicht von vornherein schwierig sein muss. Pierre Boulez ist ein sehr guter Vermittler, der auch Anekdoten erzählt, um dem Publikum ein Werk nahe zu bringen.“
Die Unterbringung der Studenten in Gastfamilien trägt ebenfalls dazu bei, Brücken zwischen dem Festival und der Stadt zu schlagen. Die Familien haben die Möglichkeit, ihre Gäste exklusiv bei Proben zu erleben und erhalten Freikarten für die Konzerte. Daniel Steppeler erzählt, dass er bei einem Mann wohnt, der in seiner Freizeit singt. „Wir haben uns schon viel über Musik unterhalten, er ist sehr daran interessiert“, sagt der Posaunist.
Über den Alltag rund um die Akademie berichten zwei weitere Nachwuchsmusiker in diesem Jahr erstmals in einem Blog auf der Website des Lucerne Festivals. Der amerikanische Trompeter Christopher Coletti und die deutsche Bratscherin Laura Verena Moehr schildern darin ihre Eindrücke von den Proben, der Stadt und privaten Begegnungen mit anderen Musikern. Wie groß sei wohl die Chance, dass er Boulez zu einer Zugabe von Michael Jackson bringen könne, scherzt Coletti. Sei’s drum, er werde ihn einfach fragen.
Eine weitere Schnittstelle zwischen Festival und Stadt ist das ebenfalls von Katharina Rengger geleitete Programm „Children’s Corner“. In den Workshops können sich Kinder und Jugendliche kreativ und spielerisch mit Musik beschäftigen. Durch eine Veranstaltung zu Musik mit Live-Elektronik wird auch eine direkte Verbindung zum Akademie-Programm hergestellt. Schüler mit Musiziererfahrung können drei Stunden lang mit ihren Instrumenten improvisieren und die Möglichkeiten elektroakustischer Musik ausschöpfen. Andere Veranstaltungen des Programms richten sich hingegen auch an Kinder, die noch nie ein Instrument in der Hand hatten. In einem Kurs werden beispielsweise Instrumente gebaut, mit denen Naturgeräusche nachgeahmt werden können.
Wie die Akademie führt auch „Children’s Corner“ dem Festival neue Besucherschichten zu. Die Kinder und Jugendlichen könnten ihre Eltern mit in die Konzerte bringen, so Rengger. Es sei wichtig, dass nicht immer nur die Erwachsenen die treibende Kraft seien. Darüber hinaus gibt es auch Projekte, die sich gezielt an Schulklassen richten und somit eine Verbindung zu den Schulen am Ort herstellen.
Auch das „Straßenmusik“-Projekt wird in die Bildungsarbeit des Festivals eingebunden. In diesem Sommer treten acht Musikgruppen aus aller Welt auf Plätzen in der Stadt auf. Tagsüber, so erklärt Rengger, werden sie auch in Schulen spielen. Damit erreiche man einen großen Kreis von Kindern, die sonst nie die Möglichkeit hätten, in Konzerte zu gehen. Auch eine Erweiterung der Projekte hin zu anderen Künsten kann sich Rengger vorstellen. Im vergangenen Jahr hatte der Choreograf Joachim Schlömer bereits mit Gymnasiasten eine Tanzperformance zu Stra­winskys Le Sacre du Printemps erarbeitet.

> Lucerne Festival Academy:
www.lucernefestival.ch/de/LUCERNE_FESTIVAL_ACADEMY/lucerne_festival_akademie
> Blog der Lucerne Festival Academy: www.academy2009.wordpress.com
> Ensemble Intercontemporain: www.ensembleinter.com/index.php
> IRCAM: www.ircam.fr