Marion Hirte, Daniel Ott, Manos Tsangaris, Malte Ubenauf (Hg.)
Schnee von morgen
Statements zum Musiktheater der Zukunft in deutscher und englischer Sprache
Die bisherige künstlerische Leitung der Münchener Biennale für neues Musiktheater hat zum Ende ihrer Amtszeit keinen repräsentativen Bildband herausgebracht, sondern Kunstschaffende, Mitwirkende und Beobachter der letzten Jahre zu ihren Perspektiven für ein Musiktheater der Zukunft befragt. Schnee von morgen nennt sich das bescheiden wirkende Paperback im weißen Einband – natürlich in Anspielung auf den vergänglichen „Schnee von gestern“. Die Herausgeber versprechen nicht viel mehr als flüchtige Visionen, ein „Zwischenergebnis, das wohl ebenso auseinanderfliegt wie das Musiktheater selbst und sich dabei auch weiterentwickelt und verdichtet“. Dabei gehen sie davon aus, dass sich Praxis und Begriff des Musiktheaters zuletzt wesentlich erweitert haben, dass dabei aber immer die Frage nach den Perspektiven des Publikums zentral gewesen sei.
So wird denn auch das Biennale-Publikum viele Anknüpfungspunkte finden. Die „auswärtige“ Leserschaft dürfte sich von dem bunten Kaleidoskop von 26 höchst unterschiedlichen Texten – mal poetisch oder aphoristisch, mal analytisch oder diskursiv – unterschiedlich stark angesprochen fühlen. Anregend findet etwa der Rezensent Malte Ubenaufs Gespräch mit dem (inzwischen 92-jährigen) Filmemacher Alexander Kluge. Der senegalesische HipHop-Musiker Keyti erhofft sich von Künstlicher Intelligenz mehr Möglichkeiten für das Musiktheater. Die israelische Altistin Noa Frenkel ringt um die Notwendigkeit positiver Utopien in einer von Furcht und Technologie besessenen Gesellschaft. Und die südafrikanische Musikjournalistin Shirley Apthorp macht auf die europäische Ignoranz gegenüber den eigenständigen Musiktheater-Traditionen des afrikanischen Kontinents aufmerksam.
Martin Schüttler, Professor für Komposition in Stuttgart, entwickelt acht Kriterien für ein Musiktheater in unserer krisengeschüttelten Gegenwart. David Roesner, Professor für Theaterwissenschaft in München, plädiert für eine dreifache Öffnung: weg von der Unantastbarkeit traditioneller Partituren, weg von der Berührungsangst mit der Unterhaltungskultur, weg von sozialer Verengung und Ausschließung. Der norwegische Komponist und Sänger Trond Reinholdtsen wünscht sich (mit unterhaltsamem und selbstironischem Unterton) für das Musiktheater der Zukunft eine kritische Haltung gegenüber dem Konservatismus des Musikbetriebs, Respekt vor den jeweiligen Kunstrichtungen beim interdisziplinären Komponieren und ein vertieftes Bewusstsein für musikalische Strukturen. Viele wichtige Aspekte berührt auch die lebendige Diskussion der Kompositionsstudierenden Nik Bohnenberger, Noëmi Haffner und Ixta Rodero Gil.
Andreas Hauff