Lutz Lesle
Schleswig-Holstein: Weh dem, der allein ist!
Das 37. Schleswig-Holstein Musik Festival huldigte Brahms und beschwor die Schatten der Vergangenheit
Wiewohl Johannes Brahms in österreichischer Berg- und Seenlandschaft das ihm zuträgliche Schaffensklima fand, blieb ihm die Sehnsucht nach Weite, Meer und Wind erhalten. Darum und weil im Norden längst rührige Brahms-Gesellschaften bestehen, die Kieler Universität ein Forschungszentrum „Johannes Brahms-Gesamtausgabe“ unterhält und die Musikhochschule Lübeck ein regsames Brahms-Institut, widmete das Schleswig-Holstein Musik Festival seine vorläufig letzte Komponisten-Retrospektive dem der Heimat zuinnerst treu gebliebenen „Hamburger Sohn“. So eröffnete das NDR Elbphilharmonie Orchester den 37. Festivaljahrgang mit Brahms’ Klavierkonzert Nr. 2. Am Flügel: Igor Levit. Auch wenn dessen Gesamtaufnahme der 32 Klaviersonaten Beethovens einzig dasteht – Schumanns und Brahms’„Doppelnatur“ ertastet er nicht minder wesensnah. Wie Letzterer im B-Dur-Konzert das Mit- und Ineinander von sinfonischer Form und virtuosem Anspruch, entwickelnder Variation und dialogischer Entfaltung, Wehmut und Überschwang löst, das gaben Solist und Elbphilharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Alan Gilbert unausgesetzt zu bestaunen.
Beruht die Empfänglichkeit des Nordens für Brahms auf einer gewissen Gemütsverwandtschaft, so stützt sich die Aufmerksamkeit, die das Festival dem Hessen Hindemith schenkt, auf dessen Plöner Musiktag für Sing- und Spielkreise – himmelweit entfernt vom Vor-Echo seiner späten Kepler-Oper, der herben Sinfonie Die Harmonie der Welt, deren drei polyfon gearbeitete Sätze die Elbphilharmoniker anschließend expressiv ausmaßen.
Wie geschaffen für den antreibenden Orchesterpart des Solokonzerts, das der türkische Pianist und Komponist Fazıl Say dem Schlagzeug-Irrwisch Martin Grubinger 2018 schrieb, erwies sich die NDR Radiophilharmonie aus Hannover. Von Gastdirigent Gabriel Venzago elastisch eingebunden, schlug der Österreicher – Bernstein-Preisträger 2007 und Porträtkünstler des Festivals 2015, zwischen Elbe, Eider und Förden absoluter Publikumsliebling – im Hangar 7 der Lufthansa Technik Basis Hamburg mehr als 2000 Seelen in den Bann. Zwischen Rototoms und Timpani, Vibrafon und Campana, Marimba und Boobams hin- und herflitzend, bereitete er ihnen ein prickelndes Wechselbad aus „hinkenden“ Rhythmen, anatolischen Skalen, türkischen Tanzweisen und freirhythmischer Improvisation samt Finale im „Istanbul gypsy style“.
Szenenwechsel. In der Klinkerwerkhalle des ehemaligen KZs Neuengamme drängt sich die Balthasar-Neumann-Familie: Chor, Ensemble und Akademie samt Stipendiat:innen und Gästen aus Europa und Kuba. Alle hatten sich zum „Campus22“ vereint, um ein Konzert im Schatten des Unerträglichen auszurichten, das Menschen begingen (und einander fortgesetzt antun) – erarbeitet von Thomas Hengelbrock, ihrem Gründervater und Inspirator. Unversehens beginnt ein Menschenherz zu schlagen, bevor der Ur-Rhythmus des Eingangschors aus Bachs Matthäus-Passion einsetzt. Den Klage-Appell der Tochter Zion an die Gläubigen lässt Hengelbrock einmünden in das erschütternde Vermächtnis, das Bernd Alois Zimmermann der Welt 1970 hinterließ: Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne. Schon 2012 hatte der Dirigent, damals Chef des NDR-Sinfonieorchesters, diese „Ekklesiastische Aktion“ dem Norden Deutschlands als Stolperstein ins Gedächtnis gemeißelt. Jetzt wieder mit dem Bariton Georg Nigl als Mund des Predigers Salomo, der sich am Ende schier die Seele aus dem Hals würgt: „Weh dem, der allein ist!“ Die repressive Sprechrolle des Großinquisitors aus Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow ging diesmal mit Glück an Ulrich Noethen.
Um seinem Auditorium nach dem quälenden Verhör Christi und Zimmermanns apokalyptisch zersplissener „Begleitmusik“ eine Trostperspektive mitzugeben, ließ Hengelbrock den Abend mit Brahms’ Deutschem Requiem chorintensiv ausklingen. Getreu der Losung „Let’s make music as friends“, die Leonard Bernstein den Gründerjahren des Festivals verschrieben hatte, stellte der diesjährige Porträtkünstler, der Dirigent, Akkordeonist, Cembalist und Schriftsteller Omer Meir Wellber aus Israel, seine Arbeit und Auftritte mit dem glühend musizierenden Festivalorchester unter das Motto „Freundschaft“. Sein Programm: Brahms’ Doppelkonzert (1887), seinerzeit Versöhnung stiftend, mit der sanften Geigerin Veronika Eberle und dem resoluten Cellisten Steven Isserlis. Danach Alma (2022). Eigentlich keine „Ballade“, wie der Sizilianer Joe Schittino im Untertitel vorgibt, vielmehr sinfonische Traumgesichte in Erinnerung an die Geigerin Alma Rosé und ihr Mädchenorchester von Auschwitz – mit den takt- und tonangebenden Solisten Alessio Vicario (Klarinette) und Omer Meir Wellber (Akkordeon). Zuletzt die erste Sinfonie des Emigranten Paul Ben-Haim (Tel Aviv, 1940). Kopfsatz: Im Marschtritt ins Inferno. Mittelsatz: Momente jüdischen Psalmengesangs. Finale: Choral und Hora (Reigentanz), nahöstlich verbrüdert. Ein Trugbild?