György Kurtág
Scenes
Viktoriia Vitrenko (Sopran), David Grimal (Violine), Luigi Gaggero (Zymbal), Niek de Groot (Kontrabass)
„Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ Das ist einer der berühmtesten Aphorismen, die Georg Christoph Lichtenberg in seinen legendären Sudelbüchern zusammengetragen hat. Zeit seines Lebens hielt der Gelehrte Gedankensplitter und knappe Reflexionen zu allen möglichen Wissensgebieten in diesen Kladden fest. Manche bestehen aus nur einem Satz, andere weiten sich zu Mini-Essays, alles vom scharfen Geist der Spätaufklärung durchdrungen – und mit viel lakonischem Witz vermischt.
Lichtenberg, eigentlich Professor für Physik, Astronomie und Mathematik an der Universität Göttingen, wurde damit zum Begründer des Aphorismus in Deutschland. Was er von der Idee gehalten hätte, derartige Sottisen zu vertonen, lässt sich schwerlich ausmalen. Eine satirische Bemerkung wäre ihm aber gewiss eingefallen.
Der ungarische Komponist György Kurtág, selbst ein Meister der komprimierten Form, hat es unternommen, einige von Lichtenbergs Gedankenblitzen zu vertonen, als er Mitte der 1990er Jahre Composer in Residence am Berliner Wissenschaftskolleg war. Dessen Direktor Wolf Lepenies hat die Anregung dazu gegeben, indem er Kurtág einen Band der Sudelbücher in die Hand gab. So zu lesen im Beiheft einer CD mit dem Titel Scenes, die, neben anderen Werken von Kurtág, erstmals eine Aufnahme der 22 Miniaturen enthält.
Was die Lichtenberg’schen Geistesblitze auszeichnet, spiegelt sich in der Besetzung mit Sopran und Kontrabass. Kurtág setzt auf Kontrast, auf instrumentatorisches Schwarz-Weiß. Das längste der Stücke dauert knapp zwei Minuten, das kürzeste 14 Sekunden. Es heißt „Gebet“. „Lieber Gott, ich bitte dich um tausend Gotteswillen“, stößt die Gesangsstimme erregt und in weiten Intervallsprüngen hervor, unterlegt mit tiefen, pochenden Kontrabasstönen, die fast wie eine Trommel klingen.
Im Lied über die „schlafenden Kartoffeln“ malt Kurtág auf hinreißende Weise die gemütlich im Sand liegenden Erdäpfel, während der „einschläfrige Kirchstuhl“ von der Sängerin gar ein herzhaftes Gähnen verlangt. „Poetische Illuminierungen“ der textlichen Vorlage nennt das Luigi Gaggero im lesenswerten Beiheft (die Texte findet man dort leider nicht, dafür auf www.audite.de).
Die Sopranistin Viktoriia Vitrenko legt eine großartige Wandlungsfähigkeit an den Tag, mit der sie tatsächlich so etwas wie imaginäre Szenen erschafft. Das gilt nicht minder für ihre Interpretation der 15 Gesänge zu Gedichten von Rimma Dalos op. 19, der Sieben Lieder op. 22 und des kurzen Zyklus In Erinnerung an einen Winterabend op. 8. Verlassen kann sie sich dabei auf kongeniale Mitspieler (David Grimal, Violine, Luigi Gaggero, Zymbal, und Niek de Groot, Kontrabass). Die spielen außerdem noch acht Duos für Violine und Zymbal.
Aufgenommen wurde die CD im Leibniz-Saal im Congress-Zentrum Hannover im Dezember 2018. Die Klangqualität lässt nichts zu wünschen übrig: transparent, aber nicht trocken, und angemessen „herangezoomt“.
Mathias Nofze