Žibuoklė Martinaitytė

Saudade

Gabrielius Alekna (Klavier), Lithuanian National Symphony Orchestra, Lithuanian Chamber Orchestra, Ltg. Giedrė Šlekytė

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ondine ODE 1386-2
erschienen in: das Orchester 09/2021 , Seite 87

Diese neue CD füllen vier reife Orchesterwerke der litauischen Komponistin Žibuoklė Martinaitytė, Jahrgang 1973, die seit zehn Jahren in New York City lebt. Als ihr Leitprinzip und ästhetisches Maß für die Klangqualität nennt sie die Schönheit. Martinaitytės Musik hat eine ganz eigene Dialektik, denn sie verbindet Inspirationen aus Großstadt und Natur, kosmisch große Bögen mit kleinsten Details, langgezogene Klänge mit Melodiefragmenten, die aus der litauischen Volksmusik abgeleitet sind, eine Vorliebe für tiefe und tiefste Register mit glitzernden Streicher-Flageoletts sowie eine meditative Grundstimmung mit erregten Repetitionen und Tremoli. Obwohl ihre Erzählweise nicht linear sein will, zeigt sie eine schlüssige Dramaturgie.
Es beginnt mit Saudade (2019), dessen portugiesischer Titel die unbestimmte Sehnsucht nach etwas Abwesendem bezeichnet. Es handelt sich dabei um Martinaitytės persönlichste Komposition. Außerdem enthält sie mehr ungewöhnliche Spieltechniken als sonst bei dieser Komponistin üblich – zum Beispiel sollen die Blechbläser in ihr Mundstück singen, was zwei unterschiedliche Tonhöhen ergibt, und die Becken sollen auf das Paukenfell gelegt und dann durch das Tonhöhenpedal in Schwingung versetzt werden.
Millefleur (2018) wurde benannt nach den „tausend Blumen“ im Hintergrund alter Wandteppiche vor allem aus Frankreich, aber auch aus Indien und China. In Horizons (2013) wird besonders deutlich, wie Martinaitytė kontrastierende Fragmente vom Hinter- in den Vordergrund und zurückschiebt.
Auf die drei Werke für großes Orchester folgt noch eines für eine kleinere Besetzung, nämlich die 2017 entstandene Chiaroscuro Trilogy für Klavier und Streichorchester. Darin geht es um verschiedene Varianten von Hell-Dunkel-Kontrasten.
Diese Ersteinspielungen entstanden vom 28. bis 30. Juli 2020 im Großen Saal der Litauischen Nationalphilharmonie in Litauens Hauptstadt Vilnius. Das wurde möglich, weil dies damals eine Zeit der Lockerungen zwischen der ersten und der zweiten Welle der Coronavirus-Pandemie war. Die Einreise der Dirigentin aus Österreich und des Solisten aus New York erwies sich dennoch als schwierig.
Fast überflüssig zu betonen, dass sowohl das Lithuanian National Symphony Orchestra als auch das (international noch bekanntere) Lithuanian Chamber Orchestra diese Musik wie ihre Muttersprache beherrschen und die Fülle der Klangfarben lustvoll ausbreiten. Die junge litauische Dirigentin Giedrė Šlekytė lässt die an sich eher statischen Werke atmen und gelegentlich sogar singen, verleiht ihnen eine durchgängige Spannung. Entsprechend lässt der litauische Pianist Gabrielius Alekna sein Instrument hier sozusagen stählern singen.
Ingo Hoddick