Roland H. Dippel

Salzburg: Feiner Jahrgang mit Neuer und älterer Musik

Impressionen von den Salzburger Sommerfestspielen 2022

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 43

Mehrere Musiktheater-Premieren, einige matte Wiederaufnahmen und interessante Konzert-Programme reihten sich bei den Salzburger Sommerfestspielen vom 18. Juli bis 31. August. Übergreifendes Thema war Dantes Divina Commedia – Hölle, Fegefeuer, Paradies. Gemeldet wurden Einnahmen in Höhe von 31,1 Millionen Euro. Die Platzauslastung erreichte mit 96 Prozent den Stand von vor Corona.
Größter Streitpunkt war die „Rolle des Dirigenten Teodor Currentzis und sein in Russland ansässiges, von umstrittenen Sponsoren gefördertes Orchester musicAeterna“ (BR Klassik, 29. August). In einem Interview kommentierte Salzburgs neue Festspiel-Präsidentin Kristina Hammer: „Bei uns kommt dagegen kein Sponsor oder Mäzen auf die Idee, unsere Kunst beeinflussen zu wollen mit dem Geld, das sie uns zur Verfügung stellen. Von daher: Hier mit dem Ethikkodex zu kommen, finde ich etwas schwierig. Außerdem können wir ein Wirtschaftsunternehmen nicht durchleuchten oder schwarze Sponsoren-Listen führen. Das fände ich wirklich problematisch.“ (BR Klassik, 20. Juli).
Béla Bartóks Herzog Blaubarts Burg und Carl Orffs letztes Bühnenwerk, das bei den Salzburger Festspielen 1973 unter Herbert von Karajan uraufgeführte De temporum fine comoedia, kamen in der Felsenreitschule mit dem Gustav Mahler Jugendorchester unter Currentzis zur Aufführung. Romeo Castellucci wählte für den musicAeterna Choir (Einstudierung: Vitaly Polonsky), den Bachchor Salzburg (Einstudierung: Benjamin Hartmann) sowie der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor (Einstudierung: Wolfgang Götz) ähnliche Mittel wie August Ever­ding vor fast 50 Jahren: archaische Stoffe, Gesich­ter unter Masken, expressiv in die Höhe gerissene Arme. Castellucci kam nun auf katholisch anmu­tende Stereotype. Der maßvolle Mann Blaubart (Mika Kares) gegen die in Natursäften badende und sich entblößende Frau Judith (Ausrine Stundyte). Erstaunlich war Currentzis, der mit ver­schlanktem Schall und langsamen Instrumen­talsoli die Partitur fast auseinanderfallen ließ.
Unter Charles Mackerras hatten die Wiener Philharmoniker bereits in der bahnbrechenden Einspielung von 1977 gespielt, jetzt waren sie auch in der Neuproduktion von Leoš Janáčeks Kátˇa Kabanová dabei. Barrie Kosky fand in der Felsenreitschule für die religiös besessene ­Titel­figur in der glühenden Corinne Winters die an Grenzen gehende Interpretin. Der Abend wurde ein dichtes menschliches Ereignis. Die Figuren-Attrappen einer das Geschehen lüstern belauernden Masse waren eigentlich unnötig. Jakub Hrůša entwickelte einen transparenten, kantablen und fast zu schönen Janáček-Klang von opulenter Intensität. Um Winters und Evelyn Herlitzius als kantige, aber nicht diabolische Kabanicha agierte ein packendes Ensemble.
Die IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) wurde am 11. August 1922 im Salzburger Café Bazar gegründet. Neue Musik aus der Frühzeit der IGNM enthielt das von Mitgliedern der Wiener Philharmoniker ausgerichtete Kammerkonzert im Großen Mozarteum-Saal zum Jubiläumsbeitrag am 7. August. Man spielte Werke komponierender Bürgerschrecks von gestern, die heute zu den Klassikern zählen. Ravels Introduction et Allegro für Harfe, Flöte, Klarinette und Streichquartett (1905) unter Führung der Harfenistin Anneleen Lenaerts, Alban Bergs Ada­gio-Satz aus dem Kammerkonzert in einer Bearbeitung von 1935 für Violine (Rainer Honeck), Klarinette (Matthias Schorn) und Klavier (Christopher Hinterhuber), dann Egon Wellesz’ Oktett op. 67. Richard Strauss’ Till Eulenspiegels lustige Streiche erstrahlte in Brett Deans Bearbeitung von 1991 für zehn Solopositionen im Vergleich zum Original in einem noch abenteuerlicheren Gelichter und mit von den Harmonien angetriebener Verve.
Das Konzert des ORF-Radio-Symphonie-Orches­ters Wien, welches seit Jahrzehnten die Festspiele mit Ungewöhnlichem ab der Wiener Moderne bereichert, brachte am 9. August mit dem Hornroh Modern Alphorn Quartet in schöner Synthese das, was man eher als reibungsscharfe Gegensätze wahrnimmt: neue Tonsprache und ethnische Einflüsse bzw. Parameter. Leoš Janáčeks Sinfonietta op. 60 hatte durch die akustisch wie visuell eindrucksvoll in den Bogen­nischen der Felsenreitschule verteilten Blechbläser mehr schroffes Kolorit als Georg Friedrich Haas’ Concerto grosso Nr. 1 für vier Alphörner und großes Orchester. Das 2014 in München uraufgeführte Opus ist ein Ohrenbad aus Parallelstimmen und balsamisch bis pikant geschärften Oberton-Frequenzen. In der Reihe „Orchester zu Gast“ gab es also Musik zum Verlieben. Ligeti reihte in seinem 1951 entstandenen Concert Românesc für Orchester sämiges, schwärmerisches und erdiges Motiv-Treibgut zu vier effektvollen Sätzen. Marin Alsop am Pult akzentuierte das liedhaft Strömende mehr als Klippen und Katarakte. Beide Abende waren festspielwürdig vom ersten bis zum letzten Takt, wie man sich das bei Gründung der IGNM wünschte. Heiterkeit, Spannung und Sensibilität ergänzten sich auf hohem Niveau.