Dagmar Zurek

Aix-en-Provence: Salome im Schlachthaus und Mozartgesang auf rollenden Kisten

Viele Opernneuinszenierungen beim Festival d‘Aix-en-Provence

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 55

Der Sommer in der Provence war in diesem Jahr wie immer sehr heiß, für frischen Wind jedoch sorgte das Opernprogramm des Festivals d’Aix-en-Provence durch seine interessanten Interpretationsansätze. Es gab jede Menge festivaleigener Neuproduktionen und zwei Uraufführungen. Zusätzlich erwarteten die Festivalbesucher:innen an jedem Mittag um 12 Uhr „Les Midis du Festival“: Podiumsgespräche, unter anderem mit Intendant Pierre Audi, Regisseuren wie Claus Guth, Dirigenten wie Ingo Metzmacher oder dem Komponisten der umjubelten Premiere von Il Viaggio, Dante, Pascal Dusapin.
Seine neunte Oper mit einem nach Dantes La vita nova und La divina commedia verfassten Libretto von Frédéric Boyer bestach durch eine betörende, klangsinnliche Musiksprache, der das Orchester und der Chor des Lyoner Opernhauses unter Kent Nagano Brillanz und Farbigkeit verliehen. Dante, darstellerisch und stimmlich ideal verkörpert durch den Bariton Jean-Sebéstien Bou, erleidet in einem Wald einen schweren Autounfall. Im Sterben reflektiert er seine Vergangenheit, begegnet früheren Weggefährten. In einem spannungsvollen Psychogramm von Regisseur Claus Guth durchlebt Dante noch einmal alle Stationen seinen Lebens zwischen Höllenfahrt und Paradies.
Neben dieser Hommage an Dante Alighieri anlässlich der 700. Wiederkehr von dessen Todesjahr erlebte man beim diesjährigen Festival mit Aufführungen von weiteren sieben Opern einen Querschnitt durch gut 600 Jahre Operngeschichte von Monteverdi bis hin zur Uraufführung von Women at Point Zero der Komponistin Bushra El-Turk. Mit nur einer Stunde Dauer war diese Aufführung im neu hinzugekommenen Aufführungsort Pavillon Noir das kürzeste ­Musiktheater des Festivals, aber auch die wohl berührendste Uraufführung. Eine „Me-too“-­Geschichte zweier Frauen (Chansonnette Dima Orsho als Fatma und Mezzosopranistin Carla Nahadi Babelegoto), gezeichnet jeweils von einem Leben voll männlicher Gewalt. Begleitet wurden die beiden Sängerinnen vom – auch auf alten arabischen und asiatischen Instrumenten wie Daegium, Sho, Kamanche oder Duduk spielenden – Ensemble ZAR unter der Leitung der Dirigentin Kanako Abe.
Nahe ans Zeitgeschehen angesiedelt hatte man auch die gefeierte Neuinszenierung von Giacchino Rossinis Oper Moϊse et Pharon, die zum ersten Mal beim Festival in Aix gezeigt wurde. Hier verband Regisseur Tobias Kratzer die biblische Geschichte der Hebräer mit dem Leidensweg heutiger Migrant:innen. Stimmig auch die bildmächtige Darstellung verschiedener Sphären durch armselige Zeltdörfer und chice Büroetagen; zuweilen stürmten „Flüchtlinge“ in Rettungswesten durch die Stuhlreihen des Théatre de L’Archêveché. Michele Mariotti und das Orchester der Oper Lyon drehten musikalisch mächtig auf bei Großszenen und bewiesen sensibles Gespür für Emotionen – wie jene der Hebräerin Anai und des Sohnes des Pharao (Sensationell: Jeanine de Bique und Pene Pati).
Weniger um Liebe denn um sexuelles Verlangen ging es bei Salome von Richard Strauss. In der schlüssigen, tiefenpsychologisch genau austarierten Inszenierung von Andrea Breth verliehen Ingo Metzmacher und das Orchester der Oper Paris der Strauss’schen Musik die nötige Durchschlagskraft und Farbigkeit. Viel Dunkelheit auf der Bühne bis zum letzten Bild. Da ist Salome (mehr höhensicher als stimmstark: Elsa Dreisig) mit Jochanaans Kopf in einem blutbesudelten Bottich in einem Schlachthaus zu sehen.
Gruselig und beklemmend auch war die Atmosphäre bei Aufführungen von Gustav Mahlers Auferstehungssinfonie, aus der Romeo Castelluci (Bühne, Licht, Regie) und Dirigent Esa-Pekka Salonen mit dem Chor und Orchester der Oper Paris einen dunklen Opernabend gestalteten. Der Aufführungsort war eine bunkerähnliche, fensterlose ehemalige Sporthalle, in der aus einem Massengrab Menschen geborgen wurden. Lichtblicke: die Stimmen von Sopran Golda Schultz und Altistin Marianne Crebassa.
Eine ganz andere, wenn auch umstrittene Ästhetik zeichnete die einzige Mozart-Neuinszenierung dieses Festivals aus: In Idomeneo, streng artifiziell von Regisseur Satoshi Miyagi in Szene gesetzt und von Raphaël Pichon und seinem Pygmalion Chor und Orchester stilsicher unterstützt, begeisterte vor allem Sopranistin Sabine Devieilhe. Auch sie musste, wie ihre Sängerkolleg:innen, ihre Arie von rollenden „Kisten“ herunter singen.
Dass weniger auch mehr sein kann, bewies Ted Huffmans durchgehend temporeiche Inszenierung von Monteverdis L’Incoronazione di Poppea im atmosphärischen Theaterchen Jeu De Paume. Auf fast leerer Bühne finden neben Garderobenständer und Schminktisch jede Menge Verkleidungs- und Sexabenteuerchen statt. Hinreißend: die Capella Mediterranea unter Leonardo Garcia Alarcón, und die Sänger, die auch bei L’Orfeo ganz ohne spektakuläres Regiekonzept mit den geschmackvollen Verzierungen ihrer Koloraturen das Publikum mit arkadischem Gesang begeisterten.