Mendelssohn Bartholdy, Felix

Sämtliche Werke für Violoncello und Klavier

Bd. I und II, Urtext, hg. von Larry Todd, Partitur und Stimme

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2017
erschienen in: das Orchester 09/2017 , Seite 68

In einem Brief an Ferdinand Hiller diagnostiziert Felix Mendelssohn Bartholdy im August 1838 ein Vakuum: „Trios, Quartetten, andre Sachen mit Begleitung, so die rechte Kammermusik“ seien derzeit „ganz vergessen, und das bedürfniß was neues darin zu haben ist mir gar zu groß. Da möchte ich gern auch was dazu thun. In der Idee habe ich neulich […] die Sonate mit Cello gemacht.“
Gemeint ist die im selben Jahr entstandene B-Dur-Cellosonate op. 45: Sie bildet zusammen mit den Variations concertantes op. 17 und der D-Dur-Sonate op. 58 den Kernbestand Mendelssohn’scher Cellowerke. Zum Wunsch nach Neu­belebung der Kammermusik kam ein familiärer Grund hinzu: Mendelssohns Bruder Paul, der sein Berufsleben im familieneigenen Bankhaus verbrachte, war ein respektabler Amateurcellist. Ihm sind die 1830 komponierten Variationen zugeeignet, und aus Äußerungen des Komponisten geht hervor, dass auch die Sonaten für den Bruder geschaffen wurden, wenngleich die 1843 entstandene 2. Sonate eine Widmung an den russischen Grafen und meisterhaften Cellisten Matwej Wielhorsky trägt.
Im Vorwort der vorzüglichen neuen Urtext-Edition informiert Herausgeber Larry Todd ausführlich über Entstehungshintergründe und Quellenlage der Werke. Hier erfahren wir etwa von der Skizze zu einer „Cellofuge“, die zwar nicht in die Sonate op. 58 integriert wurde, möglicherweise aber in Beziehung steht zu Beethovens Cellosonate op. 102,2, die ihrerseits eine Fuge enthält und Mendelssohn bei seiner Niederschrift der D-Dur-Sonate „latent“ stimuliert haben mag. Die Sonate op. 58 ist Mendelssohns bedeutendster Beitrag zur Celloliteratur. Ihr umfangreicher Kopfsatz, das originelle h-Moll-Scherzo, ein Adagio im Stil einer Choralfantasie, das virtuose Finale – all dies verweist auf wichtige Nachbarwerke wie das c-Moll-Klaviertrio oder die Lobgesang-Sinfonie.
Anders als in vielen anderen (auch Urtext-) Ausgaben enthält die Cellostimme dieser Edition keine Fingersatz- und Stricheinrichtung. Ob dies als Plus- oder Minuspunkt zu Buche schlägt, ist kaum objektiv zu beantworten. Der Verfasser dieser Zeilen empfindet es allemal als Privileg, Mendelssohns Notentext ohne cellistische Zutaten lesen zu dürfen.
Der 2. Band der Edition umfasst das bekannte Lied ohne Worte op. 109, weiterhin ein kurzes Charakterstück (Assai tranquillo) aus dem Jahr 1835 sowie einen Variationenzyklus, den Mendelssohn 1830 gemeinsam mit dem Cellisten Joseph Merk verfasst hat. Die Cellostimme dieser Komposition ist verlorengegangen, die hier wiedergegebene Version des Stücks ist also zu Teilen eine Rekonstruktion. Ungeachtet ihres spekulativen Charakters schließen wir uns gern der Argumentation des Herausgebers Larry Todd an, der die Komposition als beachtenswerten Repräsentanten der Salonkultur des frühen 19. Jahrhunderts charakterisiert – einer Kultur, „mit der Mendelssohn und seine Zeitgenossen vertraut waren, um deren Verständnis wir heute aber noch immer ringen“.
Gerhard Anders