Roland Dippel

Saarbrücken: Datenauswertungen aus dem Publikum beeinflussen Konzert-Vortrag

Konzert des Saarländischen Staatsorchesters mit dem Austausch­programm „Kunst trifft Wissenschaft“

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 55

Das Saarländische Staatsorchester unter der Leitung von Benjamin Schäfer fand sich zu einem außergewöhnlichen Anlass in der ausverkauften Alten Feuerwache in Saarbrücken zusammen: Zur „musikalischen Data Science Versuchsanforderung“ erklang Charles Ives’ The Unanswered Question gleich mehrfach. Solo-Paukist Martin Hennecke hatte durch einen Förderantrag beim Austauschprogramm „Kunst trifft Wissenschaft“ das Projekt eingeleitet. Ein derartiges Forum wurde von der Helmholtz Information & Data Sciences Academy, der Akademie für Theater und Digitalität des Theaters Dortmund, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie dem Max-Delbrück-Center für molekulare Medizin erstmals durchgeführt. Es ging darum, mit digitalem Material „die Musik in die Zukunft zu boostern“. Thoralf Niendorf (Max-Delbrück-Center) erhoffte aus der Versuchsanordnung des Konzerts eine Basiserkenntnis, aufgrund derer an der Synchronie von Herz und Arterien-Puls weitergeforscht werden könne.
Am Einlass erhielten die Besucher:innen zur Selbsteinschätzung via App einige Thesen: „Ich bin hilfsbereit und selbstlos“, „Entschlossen helfe ich Menschen im Unglücksfall“, „Ich bin einfühlsam, warmherzig“ und „Ich habe die Fähigkeit, über Eigenarten bzw. Fehler anderer hinwegzusehen.“ Weitere Daten wurden durch Kameraaufzeichnungen aus Mimik, Gesichtern und Bewegungen des Publikums und durch die auf den Plätzen bereitliegenden Body Watches erhoben.
Nach dem ersten Erklingen von The Unan­swered Question rezitierte der Schauspieler Raimund Widra die Ballade The Sphinx von Ralph Waldo Emerson, durch die Ives zu seinem Tonpoem inspiriert wurde. Auch die messbaren Reaktionen des Auditoriums zum Zeitpunkt des Vortrags flossen in die Datenerhebung ein. Nach einem zweiten Erklingen von The Unanswered Question begann die experimentelle Phase des Konzerts. Beim weiteren Vortrag beeinflussten die Daten und Algorithmen die Musiker:innen, also deren Lautstärken sowie die Proportionen von Dynamik und Ausdruck. Auf der Leinwand wurden die Sprünge zwischen den erhobenen emotionalen Befindlichkeiten grafisch dargestellt. Es ging dabei nicht um ungefiltert gesammelte Affekte, sondern um deren prozentuale Anteile während des Erklingens: Bei der dritten Wiederholung von The Unanswered Question sprangen Punkte als Verbildlichung der eingesetzten Datensammlungen zwischen den emotionalen Kategorien „happy“, „surprise“, „neutral“, „disgust“, „fear“, „angry“ und „sad“. Proportionale Gemische aus diesen Datensammlungen beeinflussten die Klänge.
Erstaunlicherweise war man bei der Generalprobe am Vormittag mit wenigen Hö­rer:innen zu ganz anderen Ergebnissen gekommen als bei den Datensammlungen am Abend. Bei der abschließenden, von Musikdramaturgin Anna Maria Jurisch moderierten Diskussion blieben Aspekte wie ästhetische Auswirkungen der Versuchsanordnung, das Änderungspotenzial und vor allem die Frage nach der Relevanz des vorgegebenen Notenmaterials ausgeklammert.
Die Versuchsanordnung wurde ein kreativer Akt sowie eine empirische Erfahrung für die beteiligten wissenschaftlichen Einrichtungen. Mit den Ergebnissen dieses Projekts weiß man offenbar jetzt noch nicht so genau, wohin. So manchem Musiker wird nicht ganz wohl sein bei dem Gedanken, dass die messbare Publikumsstimmung Einfluss nicht nur auf die Spiegelung der Stimmung, sondern auch auf den Notentext nehmen könnte – gegen die Vortragsbezeichnungen der Komponist:innen. Wie würde ein Konzert klingen, in dem sich die Musik aus den Stimmungen des Auditoriums kreiert?