Ekkehard Ochs

Rostock: Lange Tradition und lebendige Gegenwart

Die Norddeutsche Philharmonie Rostock feiert 125. Geburtstag

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 55

Am 22. September 1897 fand in Rostock jenes „Eröffnungs-Sinfonie-Conzert“ statt, das von einem neuen und mindestens 34 Mitglieder umfassenden Stadt- und Theaterorchester veranstaltet wurde und als Gründungsdatum der heutigen Norddeutschen Philharmonie Rostock gilt. Nun – im September 2022 – wurde dieses Ereignis des 125-jährigen Bestehens des Ensembles gebührend gefeiert. Eine wechselvolle Geschichte steht da zu Buche, Höhe- und Tiefpunkte, gravierende Krisenzeiten und Phasen glanzvollen Agierens; Letztere etwa unter GMD Gerd Puls (ab 1957) mit der Einstufung als A-Orchester (ab 1972) und zu dessen Dienstzeitende (1991) mit einem Bestand von 90 (!) Musiker:innen. Entsprechend weitgefächert und repräsentativ waren die Programme, die aber auch schon vorher und nachher unter namhaften Dirigenten wie – unter anderem – Hans Schmidt-Isserstedt (1928-1931), Gerhard Pflüger (1948/1949), Heinz Röttger (1951-1954), Gerhart Wiesenhütter (1955-1957), Michail Jurowski (1997-1999), Wolf-Dieter Hauschild (2002-2004) oder Florian Krumpöck (2011-2014) stets überaus ambitioniert ausfielen.
Seit 2020 ist der schon ab 2018 als Conductor in residence hier arbeitende Marcus Bosch Chefdirigent des Orchesters, das nach einer von rigiden Sparmaßnahmen der Landesregierung bestimmten Phase und mit einem nunmehrigen Mitgliederstand von 60 Musiker:innen das Musikleben nicht nur Rostocks prägt: eingeschlossen höchst innovative Angebote in Form neuer, variabler Formate zwischen Klassik und Pop. Bosch sieht da große Aufgaben auf sich und das Orchester zukommen: einen Neuanfang nach der Pandemie sowie verstärkte Bemühungen, um sich „das Pubikum zu erhalten, neues Publikum zu erschaffen und Berührungspunkte zu finden“ (Marcus Bosch). Und: Es geht um das – auch Digitales einbeziehende – Eröffnen neuer Zugänge. „Künftig wird viel Kreatives passieren, um den Livemoment zu schaffen und dort hinzuführen.“ Schließlich passt da auch das Bekenntnis: „Ich liebe die Stadt und ich liebe es, hier Musik zu machen. Das, was wir machen, ist so unglaublich bunt, divers und überraschend gegensätzlich – das ist wirklich toll.“
Womit wir bei jenem Konzert wären, das als Jubiläums- und erstes Philharmonisches Konzert der neuen Spielzeit in Rostocks Halle 207 stattfand und wohl genau dem entsprach, was dem Dirigenten und leidenschaftlichen Musikvermittler Bosch nicht nur verbal – siehe oben – ureigenstes Anliegen ist. Auf dem Programm: Karl Goldmarks Konzertouvertüre Im Frühling op. 36 (1887) – sie stand auch auf dem Programm vom 22. September 1897 – sowie von Richard Strauss – der mindestens zweimal als Begleiter (1914) und Dirigent (1924) in Rostock weilte – eine Auswahl von Orchesterliedern und die Tondichtung für großes Orchester Ein Heldenleben op. 40 (1898). Wahrlich ein Angebot, das programmatische Attraktivität mit ambitionierter Repräsentanz verband und als „Visitenkarte“ eines Spitzenorchesters denkbar beste Eignung offenbarte. Bosch konnte dabei auf einen hochprofessionellen, bestens miteinander agierenden Orchesterapparat setzen und ihm mühelos all jene spieltechnischen und gestalterischen Fähigkeiten abfordern, die für ein solches Programm unabdingbar sind.
Einmal mehr offenbarten die Norddeutschen Philharmoniker eine bestechende Souveränität im Umgang mit auch anspruchvollsten Werken und einen Musiziergestus, der die hier bei Goldmark und Strauss so besonders ­offen­liegende spätromantisch-expressive Faszination mit geradezu explodierender Musikalität verband. Da blieben keine Wünsche offen! Nicht bei Goldmark, dem als gründlich Verkannten und Vergessenen wohl einige Abbitte zu leisten wäre. Seine Ouvertüre konnte als klangfreudiges, spritziges, zwischen lyrisch und jubelnd fröhlich an Mendelssohn und Wagner erinnerndes, dennoch stilistisch durchaus eigenes Paradestück gekonnten Komponierens begeistern. Pures Hörvergnügen mit höchst inspiriert musizierenden Philharmoniker:innen!
Nicht weniger glaubhaft der emotionale und stilistische Kontrast zu Richard Strauss. Zunächst zu den Orchesterliedern Freundliche Vi­sion, Als mir dein Lied erklang, Wiegenlied, Befreit und Malven. Sie alle erklangen in der Interpretation der Sopranistin Susanne Bernhard als Beispiele für jene Strauss’sche musikalische Poetik, die ihren Sinn im melodisch suggestiven Verlauf und einem Höchstmaß an sublimem Empfindungsreichtum findet und wo sich – so Ernst Krause 1975 – „das stimmungsgebende Wort zum klingenden Symbol verwandelte und in ein Tonbild umsetzte …“ Hier traf große Kompositionskunst auf nicht minder große Sanges- und Gestaltungskunst!
Dann das Heldenleben: Ein furioser Ritt durch extreme Klangwelten, enorm kontrastgeschärft und von nicht selten überfallartiger Direktheit. Und immer auch mit einer geradezu greifbaren musikalischen Gestik, die an „rhetorischer“ Prägnanz nichts vermissen ließ.
Fazit: Rund 45 Minuten einer von Bosch zwischen verklärender Sanglichkeit, schriller Ironie, hemmungslos, ja entfesselt scheinender Drastik und hymnischer Grandiosomanie geradezu atemlos machenden, ungemein fesselnden Wiedergabe, für die es nur eine Konsequenz geben konnte: tosenden Beifall eines enthusiasmierten Publikums und damit das passende Präsent zum 125. Geburtstag dieses Orchesters.