van Beethoven, Ludwig

Romanzen in F-Dur und G-Dur

für Violine und Orchester op. 50 – op. 40, Partitur/Klavierauszug/Kritischer Bericht

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2011
erschienen in: das Orchester 03/2012 , Seite 75

Heutzutage besteht im Großen und Ganzen Einigkeit darüber, was Aufgabe eines Interpreten zu sein hat und wo die Grenzen zu ziehen sind. Oberste Maßgabe ist der zu Papier gebrachte Wille des Komponisten. Es gilt, auf der Basis detailliertesten Studiums des Notentextes und unter Einbeziehung stilistischer und personenspezifischer Kenntnisse Gestalt und Sinngehalt der jeweiligen Komposition zu erschließen und in der Folge einem Publikum zu vermitteln, ja zum Erlebnis werden zu lassen. Natürlich geschieht dies nicht quasi objektiv-neutral, sondern mit legitimer künstlerischer Deutungsabsicht, im Prisma der Persönlichkeit des jeweiligen Interpreten. Nichtsdestoweniger bleibt die gestaltende Aufgabe nach heutigem Verständnis nachvollziehender Art und unterscheidet sich damit fundamental von einer bis weit ins 20. Jahrhundert hinein üblichen Praxis, die den Primat oft beim Interpreten sah und massive Eingriffe in Text und Gestalt der Musik bis hin zu regelrechter Entstellung tolerierte. Kein Wunder, dass bei Musikern und Publikum das Bedürfnis nach einer unverstellten Sicht auf das jeweilige Kunstwerk wuchs. Man wollte wissen, was Bach, Mozart, Beethoven und die anderen nun wirklich geschrieben hatten, kurz, eine Ausgabe, die den „Urtext“ bot. Bärenreiter und Henle gehören bis heute zu den Pionieren dieser Entwicklung.
So weit, so gut. Die Erfahrung lehrt allerdings, dass Urtext nicht gleich Urtext ist. Seit geraumer Zeit sind immer mehr Editionen im Handel, die Urtext „kritisch weiter entwickeln“. Schaut man dann genauer hin, vergleicht man etwa den vorgelegten „Urtext“ mit dem Faksimile, so stellt man verwirrt – und verärgert – oft Abweichungen im Dutzend fest. Die Änderungen sind nicht kenntlich gemacht, nicht nachvollziehbar, Fuß-
noten sucht man vergebens, ein Kritischer Kommentar fehlt, sodass noch nicht einmal feststellbar ist, wo genau, geschweige denn warum hier dem Herausgeber in seinem offensichtlich überbordenden Sendungsbewusstsein so viel Raum zu schöpferischer Selbstverwirklichung eingeräumt wurde. Angesichts von so viel Willkür von Urtext zu reden, zeugt von reichlich Dreistigkeit. Es handelt sich da um persönliche Interpretationen, nicht mehr und nicht weniger, wogegen sich ja an und für sich nichts sagen lässt, solange sie nicht gerade als „Urtext“ verkauft werden. Ganz schlimm verhält es sich bei Werken, die anderweitig nicht verlegt sind, sodass irgendwann nur noch der „kritisch überarbeitete“ Notentext greifbar und der
Interpret genötigt ist, nach Alteditionen oder Manuskript-Faksimiles zu suchen.
Leider lässt sich auch Bärenreiter nicht völlig von Sünden freisprechen: Den Einzelausgaben der Bach-, Mozart-, Schubert-Gesamteditionen fehlt – warum nur? – grundsätzlich jeglicher Revisionsbericht (den bekommt man nur, wenn man alles komplett kauft, als Beigabe). Eine Kostenfrage kann das nicht sein, wie Henle beweist, dessen jeweilige Parallelausgaben in der Regel auch nicht teurer sind.
Was soll eine moderne Notenausgabe leisten? Was ich persönlich von einem Urtext, allgemeiner noch, von jeder seriösen Veröffentlichung erwarte, ist zunächst einmal die getreue Wiedergabe der jeweiligen Primärquelle. Sämtliche Änderungen müssen klar und sofort erkennbar und dazu im Revisionsbericht samt zugehöriger Bezüge (z.B. Takt X, 2. Viertel: Bindung nach Quelle A, Takt Y: Quelle A: Punkte, dagegen Erstausgabe und Quelle B Keile) ausgewiesen sein, und handele es sich auch nur um Korrekturen noch so offensichtlicher (oder vermeintlicher?) Schreibfehler des Komponisten. Keinesfalls akzeptiere ich eine von wem auch immer erstellte „bereinigte“ Version, in der Musikwissenschaftler XY aus dem Text herausliest, was der jeweilige Meister geschrieben hätte, wäre er da nicht so schlampert gewesen, oder was er eigentlich gemeint hat. Künstlerisch-interpretatorische Fragen, z.B. ob eine Artikulation analog auf eine Parallelstelle zu übertragen ist oder nicht, möchte ich als Interpret anhand zuverlässiger Notenausgaben im Zweifel selbst entscheiden. Daneben macht die Beigabe einer für den praktischen Gebrauch kompetent eingerichteten, mit Fingersätzen und Bogenstrichen versehenen, am besten separaten Stimme durchaus Sinn.
Nun zu den Neuausgaben der Beethoven-Romanzen. Erfreut sehe ich, dass man sich ein Stück weit bewegt hat bei Bärenreiter. Zwar fehlt sowohl der vorgelegten Partitur als auch dem Klavierauszug wiederum der Kritische Kommentar, aber immerhin kann man diesen (ausschließlich in englischer Sprache) zusätzlich kaufen, und erschwinglich ist er auch. Gut! Man will schließlich wissen, woran man ist. Ansonsten sind die Ausgaben eindrucksvoll sorgfältig und geradezu luxuriös gestaltet. Die Partitur wird gleich zweifach – als „Urtext“ und mit einigen praktischen Ergänzungen und Vorschlägen als „Aufführungspartitur“ – geliefert, desgleichen die Violinstimme einmal original und ein weiteres Mal mit geigerischer Einrichtung durch Detlef Hahn. Das Vorwort zur Partitur enthält interessante Hinweise auch lesetechnischer Art. So legt der Herausgeber Jonathan Del Mar dem Interpreten eine minutiöse Unterscheidung von Punkten und Keilen ans Herz. Gerne! Solange ich nur darauf vertrauen kann, dass hier in allen Einzelheiten ganz genau und zweifelsfrei des Komponisten „Ur“-Text wiedergegeben ist (bei mancher Veröffentlichung der Neuen Bach- oder Mozart-Ausgabe scheint mir das nicht immer so).
Der Kritische Kommentar enthält Faksimiledrucke einiger Seiten der handschriftlichen Partitur und des Violinparts der Erstausgabe. Takt 89 f. der Partitur-Neuausgabe zeigt in der Solovioline Sechzehntel mit Keilen. Im abgedruckten Faksimile der Handschrift vermag ich beim besten Willen auch unter der Lupe statt Keilen nur Punkte zu erkennen, was sich auch nach dem Studium einiger zum Vergleich herangezogener anderer Beethoven-Handschriften (z.B. Sonate op. 30/3) nicht ändert, und auch der Kritische Kommentar gibt hier keinerlei Aufschluss. Oh je!
So bleibt mir wiederum nur zweierlei: die feste Überzeugung, dass der Herausgeber das alles sicher weitaus kompetenter zu lesen und zu beurteilen vermag als ich – und ein leicht mulmiges Gefühl in der Magengrube.
Herwig Zack