Werke von Franz Schubert, Robert Schumann, Felix Mendelssohn Bartholdy und anderen

Romantische Abendlieder

René Kollo (Tenor), Jay Alexander (Tenor), Mitteldeutsches Kammer­orchester

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Berlin Classics
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 68

Viele sogenannte „Kunstlieder“ gehören zum kollektiven Gedächtnis. Sie werden adaptiert, neu gedeutet und „metamorphosiert“. Gerade von der Winterreise gibt es in jüngster Zeit spannende Beispiele – etwa den nomadischen Balladen-Rock von Gisbert zu Knyphausen mit Kai Schumacher, die partielle Neukomposition des Voyager Quartet, die betörende interkulturelle Perspektive des Asambura Ensemble oder mercy seat – winterreise mit Charly Hübner und Ensemble Resonanz.
René Kollo (84) hatte während der Pandemie auf Mallorca viel Zeit zum nostalgischen Blick vorwärts und zurück. Im Album Meine große Liebe spielte er vor zwei Jahren nochmals Songs und Schlager ein, die ihm die Welt bedeuteten, als er noch René Viktor Kollodzieysk war und die Karriere als einer der wichtigsten Wagner-Tenöre des späten 20. Jahrhunderts noch vor ihm lag.
Für das Album Romantische Abendlieder entdeckte er mit Jay ­Alexander den kongenialen Gesinnungsgenossen. Im Duo „Marshall & Alexander“ setzte Jay Marschall das fort, womit René Kollo und Anneliese Rothenberger im Zenit der deutschen Fernsehunterhaltung ein Millionenpublikum beglückten: Die Popularisierung der sogenannten klassischen Musik ohne Wörter wie „Crossover“ und „Relaunch“.
Kollo & Alexander singen das hochromantische Blockbuster-Edelliedgut frisch, frank und frei – abwechselnd und im Duett. Dazwischen erklingen Elgars Chanson de nuit und Massenets „Méditation“ aus Thaïs. Alexander ist der neuere Prototyp der Baritenore mit Belt-Qualitäten, wäre sicher das ideale Phantom der Oper in einer der vielen tourenden Musical-Adaptionen. Kollo hat eine Diktion, für die ihn viele jüngere Kolleg:innen beneiden. Das gilt auch für die bis in die Extremhöhe sichere Tongebung, wobei die minimale Auszehrung für viele Lieder eine packende Farbe aus der Perspektive des gereiften Interpreten hätte geben können. Hier gerät sie zur Reminiszenz an viele künstlerische Glücksjahre: Kollo singt mit viel Gemüt und Können.
Das Streichensemble aus dem Mitteldeutschen Kammerorchester kommt bestens ohne musikalische Leitung aus. Die Grenze zwischen hintergründiger Lied-Metaphorik und Stimmungslied bleibt niederschwellig. Der Gesamtklang erinnert zuweilen an Märchenhörspiele für Kinder im Volksschulalter. Das ist sicher nicht falsch für Brahms’ Wiegenlied. Jenseits der wenig geheimnisvollen Auswahl gehört es zu den Vorzügen dieser einstündigen ­Anthologie, dass Kollo die bei Liedgesang ins schier Unerfüllbare gestiegenen Erwartungen auf irdisches Künstlermaß relativiert. ­Sofern der Gesamtklang nicht zu weich und gefühlsglatt wird, entstehen im Kopf der Hörer:innen also doch die Abgründe und Mehrdeutigkeiten aus Schumanns Waldesgespräch mit der Hexe Loreley und Schuberts Vergleich in Der Wanderer an den Mond. Der „Müllergesell“ aus Schuberts Die schöne Müllerin und Künnekes „armer Wandergesell“ aus Dingsda haben mehr gemeinsam, als man denkt.
Roland Dippel