Sorg, Reto / Roman Brotbeck (Hg.)

Robert Walser: “Das Beste, was ich über Musik zu sagen weiß”

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Insel, Berlin 2015
erschienen in: das Orchester 05/2016 , Seite 64

„Musik ist mir das Süßeste auf der Welt“, schrieb der Schriftsteller Robert Walser im Jahr 1902, und fügt hinzu: „Ich kann nie ein Musiker werden. Denn ich würde es nie süß und trunken genug finden, Musik zu machen.“ Stattdessen hat er über Musik geschrieben, in Essays und Gedichten, Skizzen und Betrachtungen, und diese Texte haben der Leiter des Robert-Walser-Zentrums in Bern, Reto Sorg, und der Musikwissenschaftler Roman Brotbeck in einer Anthologie gesammelt. Das sei „fast eine Provokation“, meinen die Herausgeber im Nachwort, denn Walser habe keine Hymnen auf die Musik verfasst und sich auch nicht auf intellektueller Ebene mit Musik und Literatur auseinandergesetzt.
Und dennoch: In Walsers Texten schwingt Musik mit, wenn er etwa vom Dichter Brentano erzählt, der eine vornehme Dame mit seiner Zaubergitarre betört. Oder von Simon, dem Pagen mit der Mandoline, der seine Herrin vor dem Teufel Aggapaia rettet. Von Paganini, der spielt, „als sei er das Wort im Mund des Liebenden, redend zu der Geliebten“, oder von einer Sängerin in einer Gondel, die weniger durch große Kunst als vielmehr durch ihre Hingabe zu bezaubern weiß. In fast märchenhaften Szenen beschwört Walser die Macht von Musik und Gesang, bringt Worte und Klänge symbiotisch zusammen. Andere Texte sind diesseitiger und derber, wenn es etwa um „ohrenzerreißende Musik“ in einem „Sing-Sang und Kling-Klang-Etablissement“ geht, um ein Hauskonzert von fragwürdiger Qualität oder auch nur um ein Klopfen, das dem Erzähler auf die Nerven geht. Walser beleuchtet zahlreiche Spielarten von Musik, er befasst sich mit dem Wohlklang ebenso wie mit der Kakofonie; er schreibt über Sänger und Dirigenten, über Opern, Konzerte und Märsche, er zerpflückt die Handlung der Zauberflöte mit genussvoller Ironie und berichtet von einer Aufführung des Don Giovanni („man wusste gar nicht mehr, wo man war vor lauter Schwelgen und Träumen in wehmutvoll-empfindsamen Rätseln“).
Bei all dem stehen stets die Gefühle im Vordergrund, die Musik hervorruft. In Walsers Texten kann Musik Liebe und Leidenschaft beflügeln oder Abscheu erregen, sie kann berauschen und verärgern, begeistern und ernüchtern. Walsers Worte, seine Prosa und seine Lyrik, sind oft selbst so etwas wie Musik, wie etwa im Gedicht Chopin, in dem man beinahe zarte Töne auf dem Klavier zu hören vermeint: „Liebtest du/bis heut’ noch nicht, so bist du nun/Liebender und gehörst nicht mehr/dir, und darüber bist du glücklich.“ Walser dringt in die Seele der Musik ein und überträgt sie in Worte, ohne dabei seinen klaren Blick zu verlieren; er ist mal schwärmerisch, mal nüchtern, mal romantisch verträumt, mal bissig und sarkastisch. Seine Liebe zur Musik schimmert dabei immer durch die Zeilen, eine Liebe, die darauf gründet, dass Walser Musik nicht begreifen, sondern erfühlen möchte. „Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre“, schreibt er, „und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas. Dies ist das Beste, was ich über Musik zu sagen weiß.“
Irene Binal