Jens Daniel Schubert

Riesa: Vielfalt als Programm

Als Kulturraumorchester ist die Elbland Philharmonie ein Allrounder par excellence

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 51

Für Sachsens Elbland Philharmonie flossen die vergangene und die neue Saison regelrecht ineinander. Gerade noch spielten sie auf der neu hergerichteten Felsenbühne in Rathen die überaus populäre und wieder einmal ausverkaufte Carmina und zum letzten Mal den Fliegenden Holländer (Premiere war am 21. August), da touren sie schon mit dem Auftaktkonzert zur Saisoneröffnung. Meißen, Pirna, Radebeul und Freital waren die Aufführungsorte. Überall erklang Bruckners 4. Sinfonie, zweimal in Kombination mit Siegfried Matthus’ Der Wald, Konzert für Pauken und Orchester, zweimal mit der Uraufführung von Wilfried Krätzschmars Wir sind Teil der Erde. Chefdirigent Ekkehard Klemm bricht unermüdlich eine Lanze für zeitgenössische Musik. Seit er das in Riesa ansässige Orchester leitet, gibt es die „Composer of Region“ – und damit regelmäßig Stücke von Zeitgenossen, die im erweiterten Elbland zu Hause sind.
Krätzschmar, Jahrgang 1944, gehört zu den etablierten lebenden Komponisten hierzulande. Viele Jahre war er Rektor der Dresdner Musikhochschule. Sein neues Werk ist Teil 1 der dreiteilig angelegten Gesänge für Bariton und Orchester. Er vertont Worte des Häuptling Seattle. Der hochaktuelle Text, der von Umweltzerstörung und „menschgemachtem Klimawandel“ zu erzählen und ein Beitrag zum Thema „kulturelle Aneignung“ zu sein scheint, stammt aus dem Jahr 1855. Er ist also älter als die Urfassung der Bruckner-Sinfonie.
Die Musik dazu ist modern und ausdrucksstark. Sie baut Klangblöcke und -flächen, kann massiv, aber auch zurückhaltend kammermusikalisch klingen. Sie weckt Gefühle und Assoziationen. Den Text lässt der Komponist teilweise gesprochen, teilweise in an den Sprachduktus angelegter Melodie, dann aber auch in eigenen, manchmal sprunghaften Linien vortragen. And­reas Scheibner gestaltet das mit tragfähiger Stimme und großer Präzision. Dennoch wirkt es, als gäbe es keine komponierte Beziehung zum Text. Es ist ein Statement. Eine dramatische Entwicklung fehlt. Es wird verkündigt, untermalt und unterstrichen, was der Häuptling zu sagen hat. Eine dialogische Spannung zwischen dem Text aus dem 19. und der Musik aus dem 21. Jahrhundert, zwischen der historischen Situation der Ansprache und der aktuellen der Interpretation, vielleicht Antwort darauf, ist nicht komponiert. Der Hörer muss sie selbst finden.
Bruckners „romantische“ 4. Sinfonie, in der überarbeiteten Fassung von 1878/80, ist in ihrer Klangdimension, in den fulminanten Entwicklungen und kontrapunktischen Geflechten beeindruckend. Einerseits reizen Kirchenräume, wie im von mir besuchten Konzert der Dom zu Meißen, dazu, diese Pracht zu entfalten. Andererseits besteht die Gefahr, dass Überakustik Feinheiten verwischt und Strukturen im Raum verloren gehen. Entsprechende Befürchtungen konnte die Aufführung entkräften. Wie bei Krätzschmar klingt der Raum, allerdings sind die Themen, ihre Beziehungen und gegenseitigen Veränderungen deutlich nachvollziehbar.
Ekkehard Klemm ließ die Musik sich in ihrer ganzen Pracht entfalten, wählte die Pausen und Tempi so, dass die Struktur erhalten und die Komplexität erkennbar blieben. So konnte er mit klassischen Formen zu großen Effekten führen. Klemm versteht es, mit sehr klarer Zeichengebung und ohne theatralischen Gestus das große Auf und Ab der Gefühle im Orchester zu befeuern. Selbst der bedrohlich beginnende Finalsatz wird von Bruckner schlussendlich in einer optimistischen Grundstimmung beendet. Auch das im Unterschied zur ersten Komposition des Abends.
Sehnsucht/Natur, die beiden großen Begriffe stehen auch über der neuen Saison der Elbland Philharmonie Sachsen. Gleich im 1. Philharmonischen Konzert folgt eine Uraufführung, die, als Waldgesang tituliert, inhaltlich an das Eröffnungskonzert anschließt. Einem anderen bedrohten Lebensraum widmet sich das Orchester im Hologramm-Konzert „Unter dem Meer“, mit Bildern aus einer virtuellen Unterwasserwelt. Das wird gefördert vom Programm „Exzellente Orchesterlandschaft Deutschland“, ebenso wie „The Legend of HipHop“. Dieses Zusammenspiel mit Breakern, HipHoppern und Beatboxern wird, nach großem Erfolg in der Vorsaison, an drei Standorten wiederholt. Für die Jüngsten gibt es Alte Musik. Johann Gottlieb Naumanns Oper Orpheus und Euridice wird als halbszenische Fassung mit Studierenden der Hochschule für Musik Dresden aufgeführt.
Im Musiktheaterbereich ist die Elbland Philharmonie mit den Landesbühnen verbunden. Gleich im Oktober steht ein Doppelabend mit Schönberg und Maxwell Davies an. Es folgen Massenets Werther und im Januar Mozarts Don Giovanni. Operettenfreunde spitzen auf Kalmans Zirkusprinzessin, auch Britten und Dvořák sind angekündigt.