Raphael Gross/Katharina J. Schneider/Michael P. Steinberg (Hg.)

Richard Wagner und das deutsche Gefühl

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Deutsches Historisches Museum/wbg Theiss
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 61

Wie die im Deutschen Historischen Museum Berlin bis zum 11. September 2022 gezeigte Ausstellung hat deren Katalog die Teile „Entfremdung“ und „Zugehörigkeit“, „Eros“ und „Ekel“. Aus der Idee einer Darstellung zum Kapitalismus entstand die erste vom Museum einem Komponisten gewidmete Einzelausstellung und das Parallelprojekt „Karl Marx und der Kapitalismus“ (bis 21. August 2022).
Interessierte erhalten eine umfassende Darstellung über die geistige Haltung und die Lebensfelder Richard Wagners (1813-1883). In Quersträngen durchmisst die Aufsatzsammlung Einflüsse auf das Lebenswerk Wagners als Komponist, Autor, Theoretiker und Visionär. Widersprüche in Wagners Gedankengebäuden werden plastisch und kompakt erschlossen. Der aus Wagners Texten mit bestürzender Klarheit hervorbrechende Antisemitismus ist auch hier ein Hauptthema. In einem der wesentlichen Aufsätze des Bandes erörtert Herfried Münkler „Wagners notorische Ambivalenz gegenüber gesellschaftlichem Wandel“. Münkler belegt, dass hinter Wagners Bemühen um einen gesamtgesellschaftlichen Umsturz schon in dessen Jugend die Sehnsucht nach einem restaurativen Lebensplan erkennbar ist. In Wagners Denken bedingten sich konservative und revolutionäre Aspekte gegenseitig. Melanie Unseld vergleicht die Geschlechterpositionen von Wagners Lebenszeit mit denen in seinem Bühnenschaffen.
Arno Stollberg beschreibt, wie in Wagners Netzwerken die Rollenzuschreibungen von Freundschaft, Publikum und Finanzspritze ständig in Schwebe waren. Dessen Werke werden in erster Linie als Manifestationen von Wagners Weltbild gedeutet. Friederike Wißmann bezeichnet „Die Meistersinger von Nürnberg“ als „Reichsgründung im Reich der Kunst“ und belegt, dass Wagners Nürnberg-Bild stärker von Ritualen und Mustern der Entstehungszeit als von Dokumenten über das Nürnberg des 16. Jahrhunderts geprägt wurde.
Der Band vereint in einem relativ kompakten Volumen alle Aspekte, unter denen der polarisierende Wagner als Tonschöpfer und durch seine Schriften zu einer Person von europäischem Format aufsteigen konnte.
Seine Musik wird dabei nicht erörtert, obwohl diese um 1900 im Zenit ihrer Popularisierung anlangte und auch Verarbeitungen bis zu Militärmarschen in Klavier-Potpourris in sehr leichtem Satz ein wesentlicher Teil der deutschen Gefühlsindustrie wurde. Wagner war eben auch ein Meister des Wellenreitens auf „Marketingstrategien und bürgerlichem Mäzenatentum“ (Verena Naegele). Fotografien jüngerer Inszenierungen finden sich am Schluss.
Roland Dippel