Oberhoff, Bernd

Richard Wagner inside

Die Protagonisten auf seiner inneren Bühne

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Twentysix / Books on Demand, Norderstedt 2016
erschienen in: das Orchester 01/2017 , Seite 56

Wer weint, schimpft, murmelt, wenn Richard Wagner seinen Zeitgenossen oder der Nachwelt unverständlich bleibt? Rätselhaftes Verhalten kann sich klären, wenn wir bereit sind, in die allgemein menschlichen psychischen Entwicklungsmuster und deren individuelle Irritation in der frühen Kindheit zu blicken – auch bei einem Genie wie Wagner.
Nach der abgründigen Mozart-Biografie (2008) und der aufregenden Analyse von Wagners Ring (2012) legt der Musikpsychoanalytiker Bernd Oberhoff in seinem neuen Buch Richard Wagner auf die Couch. Dazu befragt er das gesamte Spektrum an Briefen, Schriften, Berichten von Zeitzeugen und natürlich Wagners musikdramatische Werke. Er diagnostiziert eine mittelschwere dissoziative Persönlichkeitsstörung.
Zwei gar nicht so ungewöhnliche Traumatisierungen macht er für die psychische Krankheit Wagners verantwortlich: die zeitweilige Trennung von der Mutter im Säuglingsalter (Trennungstrauma) und die Peitschenschläge seines Stiefvaters als kleiner Junge (Gewalttrauma). In den zehn abwechslungsreichen Kapiteln des Buchs fasst der Autor die benutzten Zeugnisse zusammen und baut seine psychoanalytische Interpretation bestens nachvollziehbar auf: So schreit in der Briefflut an seine Braut Minna Planer der 22-jährige Wagner wie ein Kind, das von der Mutter getrennt ist und sich von ihr verlassen fühlt.
Neben dem Kind treten noch andere Persönlichkeitsanteile auf: Das pubertäre Kampf-Ich übernimmt es auf ungenaue, unlogische und auch nicht urteilsfähige, aber umso schlagkräftigere Art aufzubegehren, wie es in der Schmähschrift Vom Judentum in der Musik geschieht. So wie die abgespaltenen, nicht integrierten (dissoziierten) Anteile des Ichs miteinander im Inneren Wagners zum Teil lautstark mit ihren Stimmen streiten, sieht sie Oberhoff in den Personen der Opern eigenständig agieren.
Beispielsweise der Holländer als traumatisiertes Innen-Kind, das sich nach Heimat sehnt, aber gleichzeitig auch extrem misstrauisch ist; Daland als das gefühlsarme Alltags-Ich, das von den wahren Gefühlen seines Schwiegersohns in spe bzw. des Inneren Kindes nicht belästigt werden will; und Senta, der vom Kind ersehnte Rettungsengel. Das pubertäre Kampf-Ich idealisiert Wagner in Siegfried zum Helden. In Tristan und Isolde und Parsifal leiden Tristan und Amfortas an Wunden, Traumata, denen Oberhoff anschaulich auch musikalische Analysen der zentralen Motive zuordnet. Schließlich bringt er Licht in das Dunkel der Frage, von welchem Leiden Wagners Personen denn nun erlöst oder besser geheilt werden müssen, nämlich von eben jenen Wunden und ihren erschreckenden Folgen.
Oberhoffs gut verständliche, ebenso sorgfältige wie empathische Analyse nimmt Wagner und sein Werk auseinander, ohne es zu entzaubern. Im Gegenteil: Sein anerkennendes Staunen über die hohe Kunst Richard Wagners überträgt sich.
Iris Winkler