Yuriy Gurzhy

Richard Wagner & die Klezmerband

Auf der Suche nach dem neuen jüdischen Sound in Deutschland

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Ariella Verlag
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 60

Auf dieses Buch muss man sich einlassen. Der Titel sorgt schon für Verwirrung – und das ist auch gut so, weckt er doch ob seiner fast unmöglich erscheinenden Verbindung zu Recht Neugier. Aber diese Verwirrung löst sich, sie wird mit einer anekdotischen Geschichte entknotet, die von Wladimir Kaminer biografisch verbunden erzählt wird und hier nicht vorweggenommen werden soll. Und dann entfaltet sich ein ganzes Kaleidoskop an weiteren Geschichten. So entsteht aus dem Pasticcio von Statements, Erzählungen und Versuchen von Definitionen aus Sicht von Musiker:innen mit ähnlichen, aber auch ganz verschiedenen Backgrounds ein rundes Bild der jüdischen Musik bzw. ihrer modernen Fortsetzung.
Viele Tätige aus der Musik- und Theaterbranche, Musiker:innen, DJs hat Yuriy Gurzhy befragt und in Gesprächen zusammengebracht, sodass eine bunte und große Sammlung mit unzähligen Interview-Teilchen entstanden ist. Das Konzept geht auf, das Betrachten des Puzzles wird belohnt. Denn dieses Buch ist keine trockene Abhand­lung, sondern lässt Menschen erzählerisch zu Wort kommen mit Meinungen, Schicksalsberichten und Familiengeschichten rund um Klezmer und jüdische Musik, zum Teil wunderbar kontrovers und daher zielführend. Denn dass jüdische Musik und Klezmer nicht unbedingt dasselbe seien und sogar Klezmer nicht gleich Klezmer sei – das vertritt manche Sichtweise in diesem Buch. Dabei geht es nicht unbedingt nur um den Stil, die Besetzung, den Sound, den Ausdruck – alles Parameter, die auch hier, wie in vielen Musikrichtungen, ein Delta an Strömungen bilden –, sondern auch um die Art, wie die Musik eingesetzt wurde: als Musik zu bestimmten Anlässen, als Rahmen für Rituale, als Tanzmusik, als Kunstmusik, als Musik, die Erinnerungen an die Kind­heit weckt, bis hin zur Hit-Sammlung der legendären „Russendisko“.
Die Geschichte der jüdischen Musik ist auch eine Geschichte von Emigration und Immigration und damit ein frühes, in die späten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts transportiertes Spiegelbild unserer jungen Geschichte. Das heißt: Sie hat mit Verlorensein in einem fremden Land, mit Selbstfindung, mit Abschied, Erkenntnis und Überwindung von Tradition zu tun, die schließlich zu einem neuen Boden führen. Der Weg dorthin ist oft ­beschwerlich, getragen von der Erkenntnis im Rückblick, dass manches Alte nur noch kulissenartig existiert und mit neuem Leben ­gefüllt werden muss. Von dieser Wurzel bis zum Ergebnis liegen die unterschiedlichsten Experimentierphasen und Mischversuche mit ­anderen Musikrichtungen als Zwischenschritte vor. Es scheint kompliziert, und das ist es auch. Und doch wird man sich nach der Lektüre dieses Buchs einen vielfach erweiterten Blick auf das Phänomen Klezmer-Musik, jüdische Musik und ihre Verwandten erworben haben.
Das Buch macht auf jeden Fall Lust, sich mit jüdischer Musik und Klezmer-Musik eingehender zu beschäftigen, und gibt mit einer ausführlichen Diskografie ab 1989 ausreichend Hilfe dazu.
Sabine Kreter