Roland Dippel

Leipzig: „Richard ist Leipziger!“

Mit allen dreizehn vollendeten Bühnenwerken Richard Wagners beendet Ulf Schirmer seine Intendanz an der Oper Leipzig

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 44

Ein Kraftakt: In „Drei Wochen Unendlichkeit“ gelangten an der Oper Leipzig mit dem Gewandhausorchester vom 20. Juni bis 14. Juli alle dreizehn vollendeten Bühnenwerke des in Leipzig geborenen Richard Wagner zur Aufführung. Zehn Minuten nach dem Verklingen des Schlussapplauses für Parsifal war der Augustusplatz zwischen der Oper und dem Gewandhaus bis auf wenige wartende Tram-Passagiere leer. Zwei Wochen früher standen dort der Screen, die Boxen-Türme und Strandkörbe für das Pub­lic Viewing von Der fliegende Holländer und Tannhäuser. Auch die Stadtbevölkerung sollte an dem Großereignis „Wagner 22“ partizipieren, mit dem der bis 2006 am Augustusplatz nicht gerade häufig gespielte Wagner in seiner Geburtsstadt substanzielles Gewicht erhielt. Das Interesse war freudig, doch keineswegs so stark wie für „Klassik Airleben“, das traditionelle Saisonfinale des Gewandhausorchesters im Rosental.
Gewinner und Star von „Wagner 22“ wurde, so die einhellige Meinung, das Gewandhaus­orchester. Ihm dankte Ulf Schirmer, der nach 13 Spielzeiten als Generalmusikdirektor und Intendant verabschiedet wurde. In dem ihm gewidmeten Erinnerungsband wird mehrfach der bravouröse Dispositionsseiltanz von Orchesterkoordinator Daniel Richwien erwähnt. Bis zum Ende der Spielzeit 2021/22 teilte dieser sein Stellen­volumen in 70% für das Gewandhausorchester und 30% für die Oper Leipzig. Ohne diese Schnittstelle wäre die Durchführung des „Leipziger Wagner-Wunders“ noch schwieriger geworden – trotz einer Besetzungspolitik mit seit Langem dem Opernhaus verbundenen Gästen und einer umsichtigen Ensemble­entwicklung durch die Operndirektorin Franziska Severin. Erschwert wurden Disposition, Marketing und die seit 2021 angesetzten Wiederaufnahmen durch die in Sachsen besonders hohe Covid-Inzidenz und daraus resultierende Schutzvorkehrungen. Richwien, der 2022/23 in seine Vollzeitstelle als stellvertretender Gewandhaus-Orchestermanager zurückkehrt, ist stolz darauf, dass alle Orchesterpositionen und Umbesetzungen aus Mitgliedern des Gewandhausorchesters kommen, ohne Aushilfen und Substitute.
Das opulente Rahmenprogramm – unter anderem ein „Ring in 100 Minuten“ mit Nachwuchskünstlern im Goethe-Theater Bad Lauchstädt und ein „Ring für Kinder“ in der Musikalischen Komödie mit deren Orchester in Inszenierungen von Jasmin Solfaghari – fand ebenso Zuspruch wie ein Wagner-Mendelssohn-Symposium des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Leipzig und Führungen von Ursula Oehme zu Wagner-Orten im Innenstadt­bereich. Der Richard-Wagner-Verband Leipzig und das neue Richard-Wagner-Zentrum Mitteldeutschland organisierten Ausstellungen, Exkursionen und Vorträge. Die Oper Leipzig präsentierte ihre Programmhefte in Luxusedition mit goldglänzenden Einbänden. Von Schloss Wackerbarth kam eine limitierte Wein-Sonderedition.
Die älteste Inszenierung – Parsifal von Regisseur Roland Aeschlimann – stammt aus der Spielzeit 2005/06. Als jüngste Wagner-Premiere löste David Pountneys Inszenierung der Meistersinger von Nürnberg 2021 die ebenfalls unter Schirmers Ägide herausgekommene und für den Theaterpreis Der Faust nominierte Lesart von Jochen Biganzoli ab. Anstelle der von Katharina Wagner abgesagten Leipziger Regiearbeiten zeigte man Tannhäuser in der bereits aus Antwerpen, Bern und Venedig bekannten Inszenierung von Calixto Bieito und Lohengrin in einer von der Corona-Version zur vollgültigen Spielfassung erweiterten Einrichtung von Patrick Bialdyga. Zur Besetzung von „Wagner 22“ gehörten Andreas Schager (Tannhäuser, Parsifal), René Pape (Gurnemanz), Elisabet Strid (Elisabeth) und Elena Pankratova (Kundry). Als Leuchtstern des Haus-Ensembles feierte man Kathrin Göring (Adriano, Venus). In herausragenden Einzelleistungen glänzten zum Beispiel Tuomas Pursio, Stefan Sevenich und Mathias Hausmann. Seinen herausragenden Ruf als Siegfried bestätigte Stefan Vinke.
Der Kraftakt „Wagner 22“ überzeugte in der Totale, weniger im Detail. Ausgerechnet Wagners selten aufgeführte Jugendwerke standen unter keinem glücklichen Stern. Matthias Foremny dirigierte diese und sprang ein für Christoph Gedschold, ab 2022/23 Musikdirektor unter dem neuen Intendanten Tobias Wolff. Kirstin Sharpin und Marc Horus übernahmen in Die Feen kurzfristig die anspruchsvollen Zentralpartien von Fee Ada und König Arindal. In Rienzi am 23. Juni fielen 21 Chormitglieder coronabedingt aus. Unter diesen Begleitumständen ließ sich die Idee, Wagners geniale Entwicklungsschübe von 1833 bis 1882 in der Klanggestaltung der einzelnen Abende nachzuvollziehen, nicht verwirklichen. Das Gewandhausorchester bringt Wagners Tonsprache für Glanz und Glück idiomatischer zum Klingen als die Farben von Grauen, Gefahr und Geheimnis. Zu Parsifal zeigt Ulf Schirmer eine weitaus größere Affinität als zur von ihm unbefangen und lautstark zelebrierten Götterdämmerung (Regie: Rosamund Gilmore), nach der sich das gesamte Gewandhausorchester auf der Bühne verbeugte. Auch das internationale Publikum von „Wagner 22“ dankte Schirmer mit einem hartnäckigen Applaus-Stakkato für 13 Jahre künstlerische Kontinuität und Stabilität.