Lars-Erik und Jürgen Gerth
Rheingau: Publikum dankt Rückkehr zur Normalität
Rheingau Musik Festival kann sich über eine Auslastung von rund 94 Prozent und zahlreiche künstlerische Höhepunkte freuen
Während viele Veranstalter feststellen müssen, dass die Besucher trotz Aufhebung der Corona-Beschränkungen noch nicht wieder in jener Zahl wie vor Ausbruch der Pandemie in die Theater- und Konzertsäle zurückkehren, kann sich das Rheingau Musik Festival über einen ungebrochenen Zuspruch freuen. Nachdem 2021 nur die Hälfte der Plätze verkauft werden konnte, war es diesmal möglich, die Kapazitäten in den 25 Spielstätten komplett zu nutzen. Vor dem Abschlusskonzert in der Basilika von Kloster Eberbach (mit der achten Sinfonie von Anton Bruckner in der nicht immer stringenten und klanglich ausgewogenen Wiedergabe durch die Bamberger Symphoniker unter Christoph Eschenbach) war Intendant Michael Herrmann die Freude über die Publikumsresonanz anzusehen. Von den 134 Veranstaltungen waren 75 ausverkauft, die Platzauslastung lag bei fast 94 Prozent.
Traditionell hatte das hr-Sinfonieorchester das Festival eröffnet. Dabei stellte sich auch erstmals der neue Chefdirigent Alain Altinoglu vor, der für eine Premiere durchaus überzeugend mit der diffizilen Akustik der Basilika des Klosters Eberbach zurechtkam. Das bewies er bereits bei Dvoˇráks sehr facettenreicher Sinfonischer Dichtung Das goldene Spinnrad, die er mit dem bestens disponierten Orchester spannungsvoll zu Gehör brachte, dabei aber immer die Feinheiten der Partitur im Blick behielt. Hauptwerk des Abends war der Lobgesang op. 52, die zweite Sinfonie von Mendelssohn Bartholdy. Auch hier gelang es Altinoglu, die klangliche Balance selbst in den eruptivsten Momenten gut auszutarieren. Dabei kam ihm zupass, dass mit dem MDR-Rundfunkchor eine hervorragende Formation zur Verfügung stand, die ideal mit den hr-Sinfonikern harmonierte. Leider ein wenig inhomogen wirkte das Solistentrio, aus dem lediglich die fein phrasierende Sopranistin Katharina Konradi herausragte.
Erfreulich hingegen, dass das Festival immer eine Reihe von Konzerten für den Nachwuchs im Programm hat. Dabei stach diesmal das Familienkonzert im schönen Ambiente des Schafhofs in Kronberg heraus. Es war der Musik aus den Harry-Potter-Filmen gewidmet, die vom Kammerorchester Ingolstadt unter Olivier Tardy sehr plastisch zum Klingen gebracht wurde. Da hätte es auch nicht verwundert, wenn plötzlich Harrys Eule Hedwig über das Gestüt geflogen wäre.
Zu den Höhepunkten des Festivals zählten zweifellos die Auftritte der beiden Fokus-Künstler:innen Julia Fischer und Jan Lisiecki. So brillierte die Geigerin mit einer ausgefeilten Interpretation von Schumanns immer noch unterschätztem Violinkonzert. Dabei stellte sie ihre spieltechnische Flexibilität sehr anschaulich unter Beweis, wechselte beispielsweise behände zwischen scharf akzentuierten Sequenzen und fein modulierten Abschnitten. Die Bamberger Symphoniker unter Leitung von John Storgards erwiesen sich dabei als kompetenter Partner.
Der kanadische Pianist Jan Lisiecki bewies im Rheingau schon einige Male seine große künstlerische Meisterschaft und riss das Publikum immer wieder zu Begeisterungsstürmen hin. Beim Konzert mit dem Norwegian Chamber Orchestra im Wiesbadener Kurhaus war er sogar in doppelter Funktion tätig. Er spielte nicht nur den Solopart in beiden Chopin-Klavierkonzerten, sondern leitete gleichzeitig die norwegischen Musiker:innen auch vom Klavier aus. Selbst wenn nicht jeder Einsatz des Orchesters bei dieser Doppelbelastung saß, gelangen beide Interpretationen doch auf hohem Niveau. Lisiecki erwies sich dabei nicht nur als brillanter Tastenakrobat, der die diffizilsten Läufe und Intervallsprünge scheinbar mühelos bewältigte, sondern legte auch viel Wert auf die Feinheiten der Musik. So beeindruckte beim ersten Klavierkonzert vor allem der umschmeichelnde Romance-Satz, den der Pianist mit sublimem Tastenanschlag versah. Dieser wiederum passte hervorragend zum warm timbrierten, melancholischen Fagottsolo. Im zweiten Klavierkonzert bestach ebenfalls der Mittelsatz, offenbarte sich doch insbesondere im Larghetto das vorzügliche Zusammenspiel zwischen Orchester und Solist. Auf die stehenden Ovationen antwortete Jan Lisiecki mit einer verinnerlichten und sehr differenziert intonierten Chopin-Nocturne.
Zu den regelmäßigen Gästen des Festivals gehört seit Jahren ein ganz Großer der Klavierszene: Grigory Sokolov. Auch diesmal sorgte er für einen ausverkauften Friedrich-von-Thiersch-Saal und hatte natürlich auch wieder sechs Zugaben im Gepäck. Keine Frage: Sokolov zählt zu jenen wenigen Künstler:innen, die in Vortrag und Intensität zeitlos sind und das Publikum in jedem Konzertsaal begeistern. Ausstrahlung und Habitus bleiben immer gleich, doch die Wirkung ist jedes Mal aufs Neue faszinierend. Seine intensive, nach innen gerichtete und versammelte Durchdringung der Kompositionen ist dabei besonders charakteristisch. Beethovens 15 Variationen mit einer Fuge Es-Dur über ein eigenes Thema op. 35 zogen die Zuhörer genauso in ihren Bann wie die Drei Intermezzi op. 117 von Brahms sowie Schumanns Kreisleriana. Insbesondere bei diesen Fantasien op. 16 zeichnete Sokolov ein farbenreiches Klangbild.
Ein anderer großer Künstler musste seinen Auftritt leider absagen. Herbert Blomstedt, der im Juli seinen 95. Geburtstag feiern konnte, litt noch unter den Folgen eines Sturzes. Für ihn sprang Jukka-Pekka Saraste am Pult des Gustav Mahler Jugendorchesters ein. Mit den jungen Musiker:innen bot er in Kloster Eberbach eine organische und packende Wiedergabe von Bruckners siebter Sinfonie, die durch ihren Detailreichtum, aber ebenso durch bemerkenswerte Innenspannung und klangliche Ausgewogenheit in den Bann zog. Zweifellos ein Höhepunkt des Festivalsommers im schönen Rheingau.