Hector Berlioz

Requiem – Grande Messe des Morts

Javier Camarena (Tenor), Chor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Concertgebouworkest, Ltg. Antonio Pappano

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: RCO Live/Avotros RCO
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 72

Camille Saint-Saëns bekannte 1911 in einem Zeitungsbeitrag, keine größere Kunst zu kennen, „nichts, was bewegender wäre“ als das Offertorium aus dem Requiem von Hector Berlioz. Auch der schweigsame Robert Schumann war nach einer Aufführung 1843 in Leipzig wie elektrisiert.
Musikalisch dominiert das Orchester, während der Chor die Gebetsworte „Domine, Jesu Christe, rex gloriae …“ unisono im sanft schwingenden Sekundabstand artikuliert. Saint-Saëns beschrieb es so: „Dem Komponisten schwebte hier ein Chor von Seelen im Purgatorium ohne Marterqualen vor, ohne einen anderen Schmerz als den des Wartens auf das ewige Glück. Eine Prozession, bei der der fugenartige Stil aufs Glücklichste mit dem melodischen Stil wechselt, und dann erklingen zuweilen dieselben beiden Noten, vom Chor wie eine Klage hingehaucht, am Ende ein fahler Hoffnungsstrahl.“
Genau diese „in limbo“-Verfassung beschwört Antonio Pappano mit dem Concertgebouworkest in der neuen Liveaufnahme der Berlioz’schen Totenmesse herauf. Wenn die einzelnen Stimmgruppen des Orchesters nacheinander im Piano einsetzen, meint man, ein Originalklangensemble zu hören, so differenziert sind Dynamik und Phrasierung ausgeführt. Und der großartige Chor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia nimmt sich in dieser „Prozession“ ins Pianissimo zurück.
Es lohnt sich, das Requiem auf die leisen Töne hin zu hören – ist das Werk doch berüchtigt für seine rein mengenmäßigen Ansprüche: 50 Violinen, 18 Kontrabässe, zwölf Hörner, acht Fagotte, um nur einige Instrumente herauszugreifen; dazu kommen Schlagwerk und vier Extra-Bläsergruppen sowie der Chor mit über zweihundert Mitwirkenden. Die scheinbare Unmöglichkeit – gerade in Pandemiezeiten –, vierhundert Musiker für ein kirchliches Werk zusammenzubringen, verdeckt den Blick auf die Schönheiten, ja die Delikatesse des Gesangs in dieser Partitur. Und zwar nicht nur des Chor-, sondern gerade auch des Orchestergesangs, der bei Berlioz gleichrangig behandelt wird. So ist ein besonderer Moment im Offertorium für die Streicher mit „canto espressivo“ bezeichnet.
Auch das Quid sum miser und das Quaerens me sind ausgesprochen intime Sätze der Totenmesse. Das gewaltige Lacrimosa wiederum lebt von scharfen Gegensätzen zwischen einem aufgewühlten Hauptteil (angstvolle „Schreie“ in den Holzbläsern, bedrohliche Akzente der Hörner, panisch synkopierte Fortissimo-Akkorde der Streicher) und dem innigen „dolce assai“-Abschnitt, in dem Tenöre und Altstimmen im Gleichklang den Vers „Pie Jesu Domine, dona eis requiem“ intonieren; eine weich gebundene, diatonische Melodie über einer ppp-Begleitung. Die Kantabilität und die raffinierte Abmischung in den Stimmfarben suchen ihresgleichen. Antonio Pappano, Musikdirektor des Royal Opera House und demnächst Leiter des LSO, modelliert diesen gleichsam menschlichen Aspekt der Totenmesse, in der der elende Mensch vor seinem Schöpfer steht, bewundernswert heraus.
Anja-Rosa Thöming