Reissiger, Carl Gottlieb
Requiem für Soli, gemischten Chor und Orchester
Erstdruck, Partitur/Klavierauszug
Carl Gottlieb Reissiger, 1798 als Sohn eines Kantors geboren, erhielt seine Ausbildung in der Leipziger Thomasschule und konnte dort als Chorpräfekt erste eigene Kompositionen aufführen. Herausragende Fähigkeiten entwickelte er als Klaviervirtuose wie als Sänger. Nach einer kurzen Zeit als Kompositionslehrer an der Berliner Kirchenmusikschule wurde er nach dem Tod Webers und dem Weggang Marschners 1826 zum Musikdirektor der Dresdner Hofkapelle berufen. 1828 wurde er, obwohl er Protestant war, verpflichtet, regelmäßig Musik für die katholische Hofkirche zu komponieren. Die förmliche Ernennung zum Hofkapellmeister erfolgte erst 1851. Heute noch bekannt ist er als Förderer des jungen Wagner: Er dirigierte die Uraufführung von dessen Rienzi und später trotz eines heftigen Zerwürfnisses den Tannhäuser. Sein freundschaftliches und künstlerisches Einvernehmen u.a. mit Spohr, Schumann, Berlioz und Liszt lässt die Kritik von Seiten der Wagnerianer als Polemik erscheinen.
Das Requiem entstand 1837/38 und wurde in der Folge mit geringfügigen Veränderungen zu Trauer- und Gedenkfeiern des Hofes wiederholt aufgeführt bis 1912 etwa 100 Mal. Da es nicht gedruckt wurde, erklang es ausschließlich in Dresden. In einer Composition für den Kirchendienst ist es nicht verwunderlich, dass Reissiger hier keine neuen künstlerischen Wege erprobt. Die schlichte Feierlichkeit der ersten beiden Chorsätze führt stilistisch eher in das späte 18. Jahrhundert, es folgt ein liedhaftes Sopransolo. Im Zentrum des Kyrie steht eine Fuge, die Reissigers fundiertes technisches Können zeigt. Wenn das Dies irae auf differenzierte Strukturen verzichtet, mag dies aus Rücksicht auf den langen Nachhall der Hofkirche geschehen sein. Sichtlich vom Duktus Mozartscher Vorbilder beeinflusst sind die folgenden Sätze, besonders das Lacrimosa. Eindrucksvoll ist die Tripelfuge Quam olim Abrahae, ebenso das frei polyfone Osanna. Klassizistischer Wohlklang beherrscht das Werk bis zum Schluss.
Der vorliegende Erstdruck greift auf das handschriftliche Aufführungsmaterial zurück, in dem sich zahlreiche Diskrepanzen in Dynamik und Phrasierung finden. Schwerer wiegen einige offensichtliche Notenfehler, die im Kritischen Bericht nicht erwähnt werden.
Problematisch ist der Klavierauszug: Etliche klanglich oder strukturell wichtige Noten fehlen; wo der Kontrabass selbstständig geführt ist, folgt der Klavierbass oft der Cellostimme, was den harmonischen Sinn entstellt. Falsche Balkensetzung macht das Lacrimosa schwer lesbar; der Klaviersatz ist hier im Übrigen zu füllig. In Takt 48 des Exaudi ist das c des Klavierauszugs wahrscheinlicher als das ces der Partitur.
Mit seinen mäßigen technischen Ansprüchen ist Reissigers Requiem für Laienchöre erreichbar. Vor dem Einstudieren ist eine sorgfältige Korrekturarbeit zu leisten.
Jürgen Hinz