Stendel, Wolfgang

Requiem “Ars vivendi – Ars morendi”

für Solo-Sopran, Solo-Bass, gemischten Chor und Orchester, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Verlag Neue Musik, Berlin 2016
erschienen in: das Orchester 01/2017 , Seite 61

Warum nur hat Wolfgang Stendel, Jahrgang 1943, seinem gut halbstündigen Werk den Titel Requiem gegeben? Ein Titel immerhin, der diese an Besetzung und Umfang recht große Komposition in eine fest umrissene Tradition stellt. Gleichwohl knüpft das 2007 komponierte Werk nicht so recht an die Linie an, die von der lateinischen Totenmesse über Requien von Mozart bis Fauré und Brahms oder gar zu Bernd Alois Zimmermann oder Benjamin Britten führt.
Schon der Untertitel („Die Kunst zu leben – Die Kunst zu sterben“) weist da weit über einen konkreten Anlass hinaus. Stendels Requiem ist weniger ein Abgesang auf das irdische Dasein denn ein Lobgesang
auf die dem Leben innewohnende Schönheit. In den Texten ist dieses Loblied auf die Schönheit schnell
zu erfassen. Hölderlin-Zitate reihen sich an Gedanken von Blaise Pascal, Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und die Aphorismen Anselm von Canterburys. Doch was als Text lesend-leicht zu erfassen ist, erfährt vertont eine mannigfaltige Verwandlung.
Auf den ersten Blick wundert man sich, dass eine Komposition aus der ersten Dekade des 21. Jahrhundert noch so eng den seriellen Techniken der 1940er und 1950er Jahre verhaftet bleibt. Doch auf den zweiten Blick erlebt man, wie starre Modelle aufgebrochen werden, wie aus dem Spaltklang (Holzbläser gegen tiefe Streicher) sich allmählich neue Linien formieren, die den an sich banalen Texten eine weite, tiefe Dimension hinzufügen.
Man muss sich auf Stendels Klangspektren erst einmal einlassen, beim oberflächlichen Lesen bleibt zu viel verborgen. Diese Musik ist unaufdringlich, erfordert Ruhe und die Bereitschaft zum bedingungslosen Sich-führen-Lassen; grelle Farben oder überraschende Wendungen gehören nicht zum Repertoire dieses Requiems. Wie aus einer Keimzelle entwickelt sich das ganze Werk aus den tiefen Streichermotiven des Beginns, Abschnitt folgt auf Abschnitt – zwar klar abgesetzt, aber ohne erkennbare thematische Verzahnung. Man hangelt sich von Textzitat zu Textzitat, die dann zu Splittern eines unglaublich reichhaltigen Kaleidoskops werden, sich aus dem Klangteppich erheben und unversehens auch wieder dorthin versinken.
Kaum eine Neuerscheinung der vergangenen Jahrzehnte hat mich derart gepackt und in ihren Bann gezogen wie Stendels Requiem. Der ruhige, ja geradezu abgeklärte Fluss an Klängen und Texten, der aber immer wieder in den Zwischentönen neue Perspektiven herausfordert, der unaufdringlich, aber stetig nach vorne drängt, betrachtet das vorbeiziehende Leben wie in einem Brennglas mit einem guten Stück philosophischer Distanz. Und immer wieder entdecke ich bei jedem neuen Lesen andere Schatten und Lichtspiegelungen. Wolfgang Stendel nimmt seine Hörer mit auf eine Reise, die so spannend ist wie das Leben selbst.
Markus Roschinski