Joseph Martin Kraus

Requiem

Urtext, hg. von Wolfram Enßlin, Partitur

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Carus
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 68

„Wenn die Musik zur Begeisterung und volle Andacht zu erwecken, das ihrige beitragen soll, so ist es nicht möglich, solches mit Messen von heutigen Meistern zuwegezubringen. Ich habe an einem nicht mittelmäßigen Ort eine solche aufführen hören, und wundre mich bis heute […]. Vor dem ersten Kyrie gieng eine rauschende Ouvertüre mit Trompeten und Pauken her – drauf fiel der Kor mit aller Force jauchzend hinein, und damit ja nichts gespart würde, die Sache zu verherrlichen, so hatte der Organist alle seine Register losgelassen, und bei jedem Griff brauchte er alle seine zehn Finger. […] – Wozu braucht man ein bloßes Amen etliche hundertmal zu wiederholen? Soll die Musik in den Kirchen nicht am meisten fürs Herz seyn? Taugen darzu Fugen?“, so schrieb Joseph Martin Kraus in seinem Essay Etwas von und über Musik für’s Jahr 1777.
In seinem Requiem, das der 1756 in Miltenberg geborene Kraus vermutlich 1775 schrieb und das hier nun erstmals in einer historisch-kritischen Ausgabe in Partitur vorliegt, zeigte der damals erst 19-jährige Komponist denn auch, wie er sich ein würdiges geistliches Werk vorstellte. Das beginnt damit, dass Kraus in seinem in d-Moll gehaltenen Werk ganz anders als die meisten seiner Zeitgenossen nur im Kyrie eine Andeutung von Fuge (nicht komplett durchgeführt) komponierte, sich ansonsten in den chorischen Teilen ganz auf Homofonie und klare Textverständlichkeit beschränkte. Auch im Benedictus, dem einzigen Duett des Requiems, verlaufen Alt- und Sopransolo fast durchgängig homofon und kaum eine Koloratur schmückt die Soloarien des Werks.
Auch die eher bescheidene Besetzung mit SAB-Soli, SATB-Chor, zwei Hörnern, zwei Violinen, Viola und Basso continuo dürfte nicht nur den begrenzten Möglichkeiten in Buchen, wo das Stück vermutlich entstand, geschuldet sein, sondern passt ebenfalls zu diesem Konzept des rein auf Ausdruck und Tiefe konzentrierten Stils – und mag dem Requiem in Nach-Corona-Sparzeiten womöglich durchaus ungeahnte Aufmerksamkeit verschaffen …
Selbst beim Text hat Kraus sich gewissermaßen auf das Nötigste beschränkt und besonders in Kyrie und Dies irae noch mehr gekürzt als andere Komponisten seiner Zeit, was die Aufführungsdauer des Werks auf knapp 30 Minuten beschränkt. Dafür darf auch der Chor-Sopran des Öfteren bis zum b” jubeln, und gerade die Homofonie verlangt eine stetig gute Kommunikation zwischen Dirigent, Vokal- und Instru-mentalkräften; denn die rhythmischen Finessen, die in einzelnen Sätzen für sehr lyrische, in anderen für geradezu schroffe Atmosphäre sorgen, sind nicht ohne.
Diese Ausgabe des Carus-Verlags lässt hinsichtlich Druck und Gestaltung nichts zu wünschen übrig – einzig, dass der kritische Bericht zum Requiem nur in der Kraus-Gesamtausgabe zu finden ist, scheint etwas erstaunlich, angesichts des doch recht stolzen Preises für diese Partitur von 60 Seiten. Nichtsdestrotrotz: Man möchte hoffen, dass ihre Existenz diesem ansprechenden und eindrücklichen Werk nunmehr endlich zu der Aufmerksamkeit verhilft, die es verdient!
Andrea Braun