Unseld, Melanie (Hg.)
Reclams Komponisten Lexikon
Bei der Konzeption eines einbändigen Personenlexikons für ein ganzes Fachgebiet stellt sich zuerst die Frage nach einer überzeugenden Auswahl. Lücken lassen sich hinterher gleichwohl immer finden, und doch wäre deren Aufzählung allzu billig, so lange keine eklatanten Versäumnisse nachzuweisen sind. Da die unverzichtbaren Namen hier vorliegen und sich der Berichtszeitraum von den Anfängen der dokumentierbaren Musik bis in die jüngste Gegenwart erstreckt, ist die wünschenswerte Bandbreite gewährleistet. Dabei entspricht es akademischer Gepflogenheit, eher Vertreter der ernsteren Muse aufzunehmen und dafür im leichteren Fach (hier vor allem Operettenkomponisten) nur die absoluten Klassiker des Genres zu berücksichtigen also etwa Jacques Offenbach, Johann Strauß (Vater und Sohn) und Franz Lehár, aber eben nicht Carl Millöcker oder Oscar Straus; die populäre Musik (auch dies wissenschaftlicher Usus) blieb bis auf Randbereiche (etwa Filmkomponisten) ausgespart.
Die biografischen und künstlerischen Würdigungen sind bei aller Knappheit des Platzes ausgewogen, wobei in den Beiträgen zentrale Kompositionen kurz charakterisiert werden; dafür verzichtete man aber auf das Anhängen von zwangsläufig nur unvollständigen Werkverzeichnissen und beließ es bei Literaturhinweisen. 163 Abbildungen (meist Porträts) lockern den Text auf, bei dem allenfalls noch einige Notenbeispiele nützlich gewesen wären.
Wollte man sich nicht in Details verlieren, könnte die Besprechung schon hier enden, wenn der Band nicht durch die Wiedergutmachung zweier in der traditionellen Musikwissenschaft bisher zu beklagenden Defizite auffallen würde: So tauchen ungewohnt viele Komponistinnen auf, die trotz eines hierfür günstigen Trends der Zeit in vergleichbaren Publikationen immer noch eher unterrepräsentiert bleiben und dabei handelt es sich nicht nur um inzwischen salonfähig gewordene Persönlichkeiten wie Clara Schumann oder die Boulanger-Schwestern, sondern etwa um die schwedische Komponistin Elfrida Andrée, die Französin Betsy Jolas, Kaija Saariaho (Finnland) oder die amerikanische Performancekünstlerin Laurie Anderson.
Außerdem weist man auf die lange Zeit verschwiegene oder zumindest oftmals bagatellisierte braune Vergangenheit manches Komponisten hin und nennt neben den bekannten Emigranten auch viele der fast vergessenen Opfer des Naziterrors (etwa die in Auschwitz ermordeten Gideon Klein und Hans Krása); Essays über Entartete Musik oder die Theresienstädter Komponisten bilden hierzu eine sinnvolle Ergänzung.
Neben 14 weiteren Artikeln (darunter über die Neudeutschen oder die Groupe des Six) hätte man allerdings noch einen Beitrag zum Thema Frau und Musik oder wenigstens zur Genderforschung erwarten dürfen. Ein kommentiertes, allerdings noch ausbaufähiges Verzeichnis mit weiterführenden Internetseiten rundet den Band sinnvoll ab.
Georg Günther