Bernd Aulich

Recklinghausen: Meister magischer Momente

Die Neue Philharmonie Westfalen hat sich in 25 Jahren zu einem prächtigen Klangkörper entwickelt – auch dank Johannes Wildner

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 56

Am Anfang stand die blanke Not: Nach dem schleichenden Niedergang der Montanindustrie wendeten massive Proteste prominenter Künstler:innen 1987 in Gelsenkirchen die drohende Schließung des Musiktheaters im Revier gerade noch ab – damals Leuchtturm der einst so prosperierenden Stadt am nördlichen Rand der Metropole Ruhr. Aber knapp ein Jahrzehnt später war es um die Selbstständigkeit des in Oper und Sinfonie agilen Orchesters, der 72-köpfigen Gelsenkirchener Philharmoniker, geschehen.
Ein Zusammenschluss mit der Philharmonia Hungarica ungarischer Exilmusiker:innen in Marl bot sich an. Daraus wurde nichts. Stattdessen fädelten Kulturpolitiker 1996 eine Fusion mit dem im Operngraben völlig unerfahrenen Westfälischen Sinfonieorchester in Recklinghausen ein. Für das neue Landesorchester holten sie das Land mit ins Boot. 1997 trat der Wiener Johannes Wildner, Ex-Primgeiger der Wiener Philharmoniker und u. a. Chefdirigent der Prager Staatsoper, am neuen Stammsitz Recklinghausen eine Herkulesaufgabe an. Es galt, zwei extrem unterschiedliche Klangkörper mit konträrer Orchesterkultur zu einem schlagkräftigen Apparat zu verschmelzen. Wildner, Sympathieträger des Publikums bis heute und gefragter Orchestererzieher, gelang die hürdenreiche Feinabstimmung durch Empathie und künstlerische Souveränität. Als er im Jahr 2007 ging, kürten ihn die Westfalen zum Ehrendirigenten.
Schon zur 20-Jahr-Feier hatte der Gründungs-Generalmusikdirektor eine pfiffige Idee: Das Pub­likum durfte das Programm eines Wunsch-Sinfoniekonzerts selbst wählen. Dieses Konzept bot sich erst recht zum Silberjubiläum an – wiederum unter der Leitung des Ehrendirigenten Johannes Wildner: Für einen konventionell aufgebauten Konzertabend galt es, aus je 25 Vorgaben eine Ouvertüre, ein Violinkonzert und eine Sinfonie auszuwählen.
Die Moldau, von Wildner einst vor Schüler:innen rauf und runter gespielt, machte das Rennen vor Humperdincks Ouvertüre zu Hänsel und Gretel. Beethovens D-Dur-Violinkonzert setzte sich knapp gegen das von Tschaikowsky durch. Überraschend gut schnitt Sofia Gubaidulinas faszinierendes Offertorium ab. Unumstritten aber setzte sich Dvořáks Neunte weit vor Mendelssohns Italienischer durch.
Für die vermeintlich so abgedroschene Neunte hatte Wildner bei den Proben für das stürmisch umjubelte Wunschkonzert im Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen ein schlüssiges Rezept: „Man muss diese Sinfonie wie eine Uraufführung behandeln.“ Wildner erwies sich, auswendig dirigierend, als Meister magischer Momente – in der Fülle der Stimmungsumschwünge von tosend wuchtigen Crescendi ins Versonnene. Elegisch, so gar nicht melancholisch, blies Sandra Klein im träumerischen Largo das populäre Englischhorn-Solo. Und die Soli des Oboisten Pavel Strugalev, des Klarinettisten Régis Vincent und der Flötistin Bärbel Danek unterstrichen, gepaart mit majestätischem Blechbläser-Glanz, bis in den funkensprühenden Finalsatz die exzellente Qualität dieses Klangkörpers.
Die vom heutigen Generalmusikdirektor Rasmus Baumann besonders gepflegte Pianissimo-Kultur ließ auch bei Wildners vitalem Zugriff auf Beethoven aufhorchen. Als Glücksfall erwies sich die sensationelle Solistin Sophia Jaffé. Die 42-jährige Violin-Professorin, nicht zum ersten Mal zu Gast bei diesem Orchester, liebt das Außergewöhnliche. In Beethovens Violinkonzert verzückte sie mit gebotener Diskretion durch weiche Phrasierung, lyrische Noblesse und wie improvisiert wirkende Figurationen. Ihr Pianissimo-Zauber im Larghetto war auf das Subtilste abgestimmt mit den elegischen Holzbläser:innen.
Dass dieser Beethoven so überraschend neu klang, lag auch an der extrem schwierigen großen Paukenkadenz im überlangen Kopfsatz. Der österreichische Violinist Wolfgang Schneiderhan hat sie auf der Grundlage von Beethovens Kadenzen der Klavier-Neufassung des bei der Uraufführung durchgefallenen Werks für das rückverwandelte, heute so beliebte D-Dur-Violinkonzert komponiert. Dass Sophia Jaffé die gängigen Kadenzen von Joseph Joachim oder Fritz Kreisler verschmäht, spricht für ihre Neugier. Die teilt sie mit diesem Orchester.