Sebastian Hannak/ Florian Lutz (Hg.)
Raumbühne Heterotopia
Neue Perspektiven im Musiktheater
Das Publikum hörte beim Betreten der Hauptbühne zunächst die sturmgepeitschte Ouvertüre von Wagners Fliegendem Holländer über die nicht sonderlich brillanten Bühnenlautsprecher. Dann sah es sich nach der Bestückung mit zitronengelben Warnwesten damit konfrontiert, selbst als Lohnabhängige von Dalands turbokapitalistischem Geschäftsimperium agieren zu müssen. In mehreren Zyklen wurde die Raumbühne Heterotopia von Sebastian Hannak, der für diese bühnenästhetische Glanztat den Theaterpreis „Der Faust“ erhielt, zu einem das Publikum gleichermaßen fordernden wie beglückenden Ereignis der Oper Halle. An diese knüpft das Leitungsteam – Florian Lutz, Michael von zur Mühlen und Veit Güssow – in seiner dritten Spielzeit 2018/19 mit Sebastian Hannaks zweiter Raumbühne Babylon an.
Der vorliegende Band mit vielen Fotos und Texten von Florian Lutz, Sebastian Hannak, Matthias Brenner, Sophie Scherer, Kornelius Paede, Julia Spinola und Clemens Meyer entstand, anders als die meisten Ausstellungs-, Performance- und Open-Art-Kataloge nicht vor, sondern nach diesen etwa hundert tollen Heterotopia-Tagen. Er ist eine Dokumentation von Konzeption, szenischer Realisierung und aktiver Besitznahme durch Interpreten und Publikum.
Leiten ließ sich Hannak von Michel Foucaults Gedanken zur Heteropologie des Theaters. Klaus Zehelein nennt in seinem Grußwort insbesondere Theater „als einzigen Ort mehrerer Räume“, auf dessen Bühne „eine ganze Reihe von einander fremden Orten aufeinander folgen“. Um es gleich zu sagen: Die Bilder geben in zwar ästhetisch bestechender Form den Heterotopia-Zyklus wieder, rücken aber dieses großartige Theaterereignis mit einem distanzierenden Rahmen in die Ferne. Der Band muss zwangsläufig hinter dem Erleben dieses fordernd interaktiven und dabei unterhaltsamen Projekts zurückbleiben.
Das Eigene und das Fremde durchzog die Auswahl der Stücke, die neben der Aufführung von Elfriede Jelineks Wut durch das Neue Theater Halle und dem 12-Stunden-Konzert Farben der Moderne als Streifzug der Staatskapelle Halle durch die Neue Musik auch zwei Musiktheater-Uraufführungen brachte: Sarah Nemtsovs und Clemens Meyers Sacrifice, später im Rahmen des Impuls-Festivals für Neue Musik Sachsen-Anhalt Leyan Zhangs und Hans Rotmans Spiel im Sand. Diese reflektierten die aktuellen Themen Migration, Rechtsruck, Flüchtlingskrise und Fundamentalismus. Zu einem unmittelbaren Reaktionsreflex auf die hohen Wahlergebnisse der AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 2016 wurde die vielschichtige „musikalische Heimatbegehung“ Kein schöner Land. Gerade durch die künstlerische Interaktion mit neuen Werken entstanden ganz neuartige Herausforderungen.
Bei der räumlichen Planung von Heterotopia waren die Auftragswerke noch nicht fertig. So entstand die Möglichkeit, spannende Raumideen zu entwickeln, die das Erleben viel unmittelbarer beflügelten als eine Theatersituation mit der Trennung von Publikum und Ausführenden durch eine vierte Wand.
Roland H. Dippel