Rösler, Winfried
Räume durchschreiten
Zu Schuberts Klangbildern
Kein Buch einfach zum Durchlesen: im doppelten Sinn trotz des nur etwa 80 Seiten intensiven Lesestoffs. Nicht einfach deswegen, weil philosophisch; nicht zum Durchlesen, weil es zum Nachsinnen zwingt. Schon der Titel Räume durchschreiten lädt zur Langsamkeit ein, zum Nachfühlen, Innehalten. Etwa so, wie man eine Galerie mit faszinierenden Bildern durchschreitet, um diese im Raum aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Der jeweilige Blickwinkel verändert bekanntlich Wirklichkeit.
Nun werden im Buch von Winfried Rösler jedoch keine Gemälde oder Skulpturen beschrieben, sondern Musik, die, um sie zu durchdringen, viel Raum braucht. Keine unterhaltende Barockmusik, keine kurzlebige Popmusik, sondern romantisch geprägte Musik von Franz Schubert, genauer: dessen Klangbilder. Schon länger beschäftigte Forscher dieses Phänomen. Ende der 1920er Jahren beschrieb Felicitas von Kraus Schuberts poetische, sinnliche und malende Klangbilder, Bilder, bei denen beispielsweise Diether de la Motte 1989 meinte, die Zeit bleibe stehen. Nicht wenige Verfasser hoben die semantische Kraft von Schuberts Musik hervor. Der Komponist Dieter Schnebel gar dachte zuvor in den 1970ern in Zwei Versuchen über Schubert laut über Klangräume Zeitklänge nach.
Rösler dagegen durchwandert in seiner kleinen Schrift drei Orte: Landschaftsräume, Erinnerungsräume und Flächen zur Ebene geschrumpfter Raum und philosophiert exemplarisch über einzelne Sätze aus Schuberts Streichquartett in G D 887, aus dem Klaviertrio in Es Nr. 2 D 929 und aus den Klaviersonaten in a D 894 und in B D 960 mit einem Ernst-Bloch-nahen Schreibstil, der in seiner Utopie bekanntlich auch die Musik einbezog.
Ausgehend von den Klängen als Seiendes im Modus des Flüchtigen macht Rösler zahlreiche Anleihen aus anderen Kulturzweigen wie der Malerei oder der Literatur, wenn der Klang die Zuordnung der sprachlichen Bilder auch zulässt. Bei Schubert passt am besten das Bild des Wanderers in all seinen Ausdrucks- und Bewegungsformen. Und so sind diese in den Unterkapiteln wandern, erstarren, verweilen, außer Tritt kommen, stürzen bis zu tanzen mit zahlreichen Musik-, Text- und Bildassoziationen mit historischen Zitaten sowie literarischen, kunsthistorischen und musikalischen Verweisen bis hin zu psychologischen Aspekten vernetzt und vollgepackt. Zuletzt verknüpft und analysiert Rösler das 1978 entstandene Blendwerk von Dieter Schnebel als Klangfläche ohne Bewegungsenergie mit Schuberts a-Moll-Sonate.
Bei allem analytischen Sachverstand, den der Autor kenntnisreich an den Tag legt, ist das Büchlein ohne die genaue und nachvollziehbare Kenntnis der Werke oder der Vorlage der Partituren schwer genießbar. Aus dem Zusammenhang gerissene Notenbeispiele hätten wohl wenig gebracht. Aber wer außer eingeweihte Spezialisten besitzt alle Noten der genannten Werke? Schuberts Musik mag ja noch relativ griffbereit sein. Das sieht mit Schnebels Blendwerk wohl anders aus.
Werner Bodendorff