Werke von Olivier Messiaen und Tristan Murail

Quatuor pour la fin du temps/Stalag VIII A

Het Collectief

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Alpha Classics
erschienen in: das Orchester 12/2024 , Seite 74

„Gibt es eine schönere Hommage?“, fragt Autor Jan Christiaens im Booklet der vorliegenden CD. Die Frage ist rhetorisch gemeint. Tristan Murails Stalag VIIIA ist Ausdruck größten Respekts und tiefster Verehrung eines Schülers für seinen Lehrmeister. Von 1967 bis 1972 studierte Murail, der maßgeblich die Stilrichtung der Spektralkomposition mitprägte, bei Olivier Messiaen. Dieser wiederum bereitete mit seiner an den Phänomenen Klang, Farbe und Zeitlosigkeit orientierten Musik den Weg für die Spektralisten.
Für seine Würdigung suchte sich Murail Messiaens kammermusikalisches Hauptwerk, das Quatuor pour la fin du temps aus. Messiaen stellte es 1940 fertig, während er als Kriegsgefangener in einem Lager in Görlitz interniert war. Dieses Lager wurde verwaltungstechnisch als „Stalag (= Stammlager) VIII A“ geführt. Am 15. Januar 1941 erlebte die auf göttliche Gegenwart zielende, ekstatische Musik dort ihre Uraufführung. Interpreten waren neben Messiaen drei französische Mitgefangene.
Murail versteht sein 2018 geschriebenes Stalag VIIIA ausdrücklich als Prolog für Messiaens Quartett und verwendet deshalb dieselbe Besetzung, nämlich Klavier, Klarinette, Violine und Violoncello. Doch die Beziehungen gehen noch tiefer. Murail nutzt einige der für Messiaen typischen Akkordformen, darunter der „accord à résonance contractée“. Diese Klänge fungieren wie eine Art Leitmotiv und führen bruchlos in den ersten Abschnitt des Quartetts („Liturgie de cristal“). Stalag VIIIA, darauf deutet schon der Titel hin, thematisiert die harten, unmenschlichen Bedingungen und das Klima der Hoffnungslosigkeit, unter denen Messiaens Quartett entstand. Deshalb versagt es sich allen Überschwang. Stalag VIIIA beginnt mit extrem hohen, gleichsam eiskalten Klängen, wie wenn Sonnenstrahlen auf eine glitzernde Schneedecke fallen, es gibt hohle Flageoletts, prickelnde Klavierpassagen. Eine seltsame Unruhe durchzieht die Musik, die nach rund viereinhalb Minuten auf einen dramatischen Höhepunkt zusteuert. Müsste man heute noch einmal den Horrorfilm The Shining vertonen, hier hätte man brauchbares Material.
Die vier Musiker des in Brüssel gegründeten Ensembles Het Collectief (Wibert Aerts, Violine, Martijn Vink, Violoncello, Julien Hervé, Klarinette, und Thomas Dieltjens, Klavier) spielen die Abgründigkeit der Musik fabelhaft heraus. Ebenso plastisch, eindringlich und mit glänzender Virtuosität gelingt ihnen das Quartett, dessen Musik, so hat es Messiaen erläutert, „immateriell, geistig, katholisch“ sei. Er empfiehlt den Ausführenden, den Notentext genau zu studieren, alle Nuancen zu beachten, sich gleichzeitig aber auch die Freiheit zu nehmen, diese zu übertreiben. Het Collectief hat sich daran gehalten – und eine grandiose Einspielung vorgelegt. Stalag VIIIA wurde in Antwerpen (de Singel), das Quartett in Gent (de Bijloke) aufgenommen, jedes Mal klar und mit natürlicher Wärme.
Mathias Nofze