Ravel, Maurice

Quatuor à cordes

en fa majeur, hg. von Roger Nichols, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Peters, Leipzig 2014
erschienen in: das Orchester 11/2014 , Seite 66

Wer bislang glaubte, die 1910 von Maurice Ravels Hausverleger
Durand Cie. herausgegebenen Noten zu seinem einzigen Streichquartett F-Dur spiegele den Willen des Komponisten wider, könnte sich mit der neuen Edition von Peters getäuscht sehen. Selbst bei der 2011 neu herausgegebenen Ausgabe sei man davon ausgegangen, dass die zahlreichen Korrekturen im Notentext, die Ravel in den 1920er und 1930er Jahren nach verschiedenen Aufführungen vorgenommen hatte, mit berücksichtigt worden seien. „De facto sind erstaunlich viele Fehler und Widersprüchlichkeiten mehr als ein Jahrhundert lang erhalten geblieben“, so Heraus­geber Roger Nichols in seinem dreisprachigen Vorwort zur neu edierten Partiturausgabe. Sieben verschiedene Quellen, das Autograf, eine Zweitschrift, Druckfahnen, verschiedene Ausgaben, Stimmensätze sowie die Einspielung des International String Quartets von Juni/Juli 1927 hatte ­Nichols berücksichtigt (wobei interpretatorische Fragen im Kritischen Bericht nicht ganz unproblematisch sind): eine minutiöse Arbeit also mit zahlreichen Problemen, mit denen sich der Herausgeber konfrontiert sah. Dennoch würde sich, so Nichols, die wahre Gestalt mit den letzten Änderungen, die Ravel vorgenommen hatte und die sich von der ursprünglichen Komposition von 1905 erheblich entfernt hätten, vermutlich nie rekonstruieren lassen, da schriftliche Äußerungen fehlten. Trotzdem soll die vorliegende Ausgabe der Ravel’schen Intention sehr nahe kommen, da mit Blick auf den umfangreichen Kritischen Bericht anscheinend sämtliche Quellen im Notentext berücksichtigt worden sind. Haben wir also über hundert Jahre mit der Durand-Fassung einen falschen Ravel gehört?
Nein, sicherlich nicht. Denn es gibt in der Peters-Ausgabe im Vergleich zu der Durand-Ausgabe in der „Nouvelle édition revue par l’auteur“ (einem fotomechanischen Druck von 1957) bei genauerem Hinsehen im Kopfsatz bis auf fehlende Bindebögen (Viola, T. 158) keine nennenswerten Änderungen. Zwei offensichtliche Druckfehler (fehlende Akzidentien Violine II, T. 27, und Violoncello, T. 173) im Scherzosatz bereiten keine großen Kopfzerbrechen; dennoch ist es wichtig, dass diese nun ausgemerzt sind. Im langsamen dritten Satz ist einzig in der Violoncellostimme (T. 9) die Tremoli-Balkung vergessen worden. Sogar die Auf- und Abstriche im Finalsatz (T. 261-267) sind dieselben. Ansonsten wurde bis auf den Takt 115 im dritten Satz das Layout takt- und seitenidentisch von Durand übernommen. Jene  „Widersprüchlichkeiten“ der einzelnen Quellen sind lediglich im Kritischen Bericht verzeichnet. Unterschiedlich ist bei Durand lediglich die Abschnitts-Unterteilung in Ziffern, wobei der langsame Satz erneut bei Ziffer 1 beginnt. Bei Peters sind es Buchstaben, hier startet jeder Satz stets neu mit A.
Die gut lesbare Ausgabe erfüllt selbstverständlich moderne Ansprüche, der Charme des Jugendstils fehlt hier. Das Material ist im Unterschied zu früher wohl schneller erhältlich, indes sind die Noten dieselben: Die
Interpretation bleibt offen.
Werner Bodendorff