Giuseppe Verdi u. a.

Quattro Pezzi Sacri

Rundfunkchor Berlin, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Ltg. Gijs Leenaars

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Sony Classical
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 65

Fast mehr noch als in der Oper hört man in dieser Anthologie katholisch geprägter Sakralmusik, was für eine faszinierende Übergangs­periode die Zeit um 1900 auch für das italienische Musikschaffen war. Die meisten der ausgewählten Chorwerke streben nicht nach chromatischer Erweiterung, sondern zu diatonischer Einfachheit. Devotion und Distanz ergeben in Giuseppe Verdis Quattro Pezzi ­Sacri, seinen letzten vollendeten Kompositionen, eine archaische und zugleich moderne Textur. Die Musik scheint im Raum zu stehen und lädt ein zu freier, undogmatischer Kontemplation.
Verdi vertonte ein Vaterunser in der volkssprachlichen Variante Dantes, Marco Enrico Bossi widmete sein A-cappella-Werk A Raffaello divino („Dem göttlichen Raffael“). Wie in Kompositionen Respighis findet eine Historisierung des musikalischen Materials statt. Modale Tonarten, archaische Klangfarben, die Besinnung auf Satztechniken der Spätrenaissance und wenige herausstechende, deshalb modern wirkende harmonische Verbindungen fügen sich zu bezwingenden Klanggebilden.
Dem Rundfunkchor Berlin ist mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin ausgehend von den über 120 Jahre nach ihrer Entstehung noch immer überraschenden Stücken Verdis ein faszinierendes Album gelungen. Effekt und Glanz sollen sich nicht aus dieser Musik gewinnen lassen. Keine leichte Aufgabe ist das für den Dirigenten Gijs Leenaars: Jede Laxheit könnte Risse in das Gesamtgebäude bringen, jede outrierte Geste eine unangemessene Übertreibung nach sich ziehen.
„Archaisch“, „schmerzlich“ und „düster“ sind die am meisten verwendeten Attribute für diese Musikstücke. Viele Jahre vor Verdi hatte bereits Gioachino Rossini nach Abschluss seines Opernschaffens im Stabat mater eine Wendung zur Sakralmusik vollzogen und für diese wie Verdi in seinem Requiem opernhafte Kompositionsmuster variiert. Ein dunkles Poem ist auch das Requiem zu Verdis viertem ­Todestag des aus einer Dynastie von Kirchenmusikern stammenden Giacomo Puccini. Dieser verzichtete hier auf Töne wie jene seines martialisch geschärften und fast ­einer Schwarzen Messe gleichkommenden „Te Deum“ in Tosca. Bemerkenswert ist, wie auch Ermanno Wolf-Ferrari, der Erneuerer der Opernkomödie, hier ein Anhänger der dunklen Suggestion zu sein scheint.
Anders als zum Beispiel in der Mitte des 19. Jahrhunderts das ­Sakralschaffen von Amilcare Ponchielli, der sich in seinen Orgelkompositionen am einfachen Idiom der italienischen Sakralmusik orientierte, wird in den hier erklingenden Stücken ein über liturgische Anlässe hinausweisender künstlerischer Gestaltungswille und Ehrgeiz erkennbar. Es geht um Monumentalität statt Einfachheit, artifizielle Düsternis statt Trost und einen hohen ästhetischen Anspruch. Das gilt auch für Verdi, bei dem vorgeblich einfache Strukturen das Ergebnis eines lebenslangen künstlerischen Reifeprozesses waren. So klingt ­Sakralmusik, welche ihre Effekt­sicherheit erfolgreich verleugnet.
Roland Dippel