Frauke Adrians

Publikum als Partner

Neue Zugänge zum Konzert- und zum Lern-Erlebnis: Musikrat lud in Bonn zu Diskussionen

Rubrik: Thema
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 14

Durchatmen „nach Corona“, das in die Säle zurück­strömende Publikum mit offenen Armen empfangen: Schön wär‘s. Doch das Publikum strömt nicht überall. Konzert-Streams haben sich als zweischneidiges Schwert erwiesen, „live“ ist nicht mehr selbstverständlich. Die Orchester – und nicht nur sie – müssen und können sich noch weiter öffnen, um „alte“ Zielgruppen zurück- und neue hinzuzugewinnen. Aber wie? Darüber diskutierten Experten in Bonn.

Zu sagen, die „International Association of Music Information Centres“ (IAMIC) habe sich mit ihrer Konferenz in Bonn viel vorgenommen, wäre stark untertrieben. An einem einzigen Konferenztag, dem 24. Mai, sollte ein thematisches Schwergewicht nach dem anderen behandelt werden: „Orchester, Ensembles und Programmplanung“, „Zeitgenössische Musik und Komponistenförderung“, „Musikvermittlung“ sowie „Musikvertrieb und Urheberrecht“. Für jeden der vier gewaltig großen Bereiche war ein Panel von etwa einer Stunde Dauer eingeplant. Da konnten selbst noch so kompetente Diskussionsteilnehmer allenfalls an der Oberfläche kratzen.
Man saß im Auditorium des Beethoven-Hauses zusammen, der Großteil des Publikums war als Webinar-Teilnehmer via Zoom zugeschaltet. Als Gastgeber firmierten neben der IAMIC der Deutsche Musikrat und sein Infoportal, das Deutsche Musikinformationszent­rum (MIZ). Auf dem Podium: jede Menge Fachwissen, auch wenn der eine oder andere Diskussionsgast wegen einer Corona-Infek­tion absagen musste.

Holger Noltze, Musikjournalist und Professor am Institut für Journalistik der TU Dortmund, eröffnete die Tagung mit einem Impulsvortrag zu einem epochalen Thema, das im Programm noch nicht einmal aufgeführt war: Digitalisierung oder, wie Noltze es betitelte, „Musik in der digitalen Revolution“. Die Digitalisierung habe, so Noltze, größere Auswirkungen als einst die Industrialisierung, das Internet verändere „alle und alles“ in revolutionärem Ausmaß – auch wenn eskapistisch Veranlagte an alten Gewissheiten festzuhalten versuchten.
„Das Internet könnte eine Wunderkammer sein“, so Noltze, aber die Budgets für die Digitalisierung seien überall zu klein, auch weil Rückwärtsgewandte sich weigerten, im World Wide Web etwas anderes als eine Bedrohung oder lästigen neumodischen Kram zu sehen. Aber selbst „wir, die wir aktiv mit Kunst und Kultur verbunden sind“, hätten es bislang versäumt, das Internet als Werkzeug und Mittel in Besitz zu nehmen. „Wir sind digitale Trottel.“ Zu viele hätten zu viel Vertrauen in „Internet-Gurus“ und bestimmte allmächtige Algorithmen würden zu stark unterstützt, verfolgt und geliked. Streaming, unterstrich der Musikjournalist, werde das musikalische Live-Erlebnis nicht ersetzen, aber als Mittel zur Bewahrung und Verbreitung von Musik wichtig bleiben.
Nach dem Streaming-Hype während der Corona-Lockdowns müsse der Wert der Musik neu bemessen werden. Der Gratiszugang zu allem könne nicht funktionieren. Holger Noltze, selbst Mitgründer der kuratierten Klassikplattform „takt1“, hob die Bedeutung des Kuratierens im Internet hervor – „nicht als Gatekeeping, sondern als Kunstform und als Qualitätsinstrument“. Susanna Eastburn, Geschäftsführerin der britischen Neue-Musik-Organisation „Sound and Music“, griff einen anderen Aspekt von Noltzes Referat auf: seine Überzeugung, man müsse sich von der Vorstellung verabschieden, die Welt werde je wieder so werden wie vor der Corona-Pandemie.

Zuhörer auf der Bühne
Eastburn wollte von den Teilnehmern ihres Panels wissen, was sie sich für die Zukunft des Klassik-Konzerts – in etwa zehn Jahren – erhofften. Einig war sich das Podium, dass das Konzertwesen sich öffnen müsse: für neue Publikumsschichten, alternative Aufführungsformen, ungeahnte Programme. Bloß nicht in Routine erstarren! „In zehn Jahren werden nicht nur die Musiker, sondern auch das Publikum auf der Bühne sein“, prophezeite Frauke Bernds, bei der Kölner Philharmonie für die Programmplanung zuständig. „Wir müssen unserem Publikum – und den Menschen, die wir darüber hinaus erreichen wollen – eine Plattform bieten.“ Dabei dürften Musiker, Konzerthäuser und Veranstalter nicht nur das aufs Programm setzen, „was wir mögen“, sondern müssten die Diversität der Zuhörerschaft im Blick behalten.

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