Ives, Charles
Psalms
Complete Recording
Es dürfte weithin bekannt sein, dass Charles Ives (1874-1954) nicht von seinen Kompositionen lebte, sondern in New York als versierter Versicherungskaufmann ein vermögender Mann wurde. Ein glücklicher Umstand, denn die daraus resultierende ökonomische Unabhängigkeit ermöglichte ihm kompositorisch die Umsetzung einer radikalen (und wenn man so will: typisch amerikanischen) Ästhetik des anything goes. Begründet ist sie in einer schon im 18. Jahrhundert unter den Puritanern präsenten, aus dem Genie-Kult abgeleiteten Vorstellung von schöpferischer Unbekümmertheit. Sie findet sich auch bei Ives Vater George, der seinen fraglos musikalisch hochbegabten Sohn zu bisher unerhörten satztechnischen, harmonischen, klanglichen und rhythmischen Experimenten anregte (und der damit in der Musikgeschichte überhaupt eine Tür zu vollkommen neuen Klängen aufgestoßen hat). Der Weg war für Charles Ives freilich steinig und vieles kam erst nach seinem Tod zum Vorschein, denn er hatte seine Manuskripte meist zurückgehalten.
Die nun auf CD vorliegenden Psalm-Vertonungen dokumentieren gleichsam die ersten Versuche im Ivesschen Laboratorium. Die nahezu ausschließlich in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts entstandenen Kompositionen stehen dabei in Zusammenhang mit Ives musikpraktischen Erfahrungen, als er in seiner Heimatstadt Danbury während seines Studiums den Orgeldienst an verschiedenen Kirchen versah und diese Tätigkeit auch noch nach seinem Wechsel an den Hudson River (1898) für einige Zeit aufrechterhielt. Die in der Mehrzahl a cappella (auch doppelchörig), oft mit Orgelbegleitung und gelegentlich auch mit zusätzlichen Instrumenten (Trompete, Posaune, Glocken) besetzten Kompositionen wirken vielfach wie ein systematisches Ausloten eines musikalischen Aspekts und doch sind die Sätze vor allem vom Psalmwort und seiner Ausdeutung inspiriert. Wolfgang Rathert leistet hierzu im Booklet vorzügliche Aufklärungsarbeit.
Auch wenn es sich bei den Stücken gewiss nicht um die bedeutendsten Werke aus dem so vielfältigen und immer wieder verblüffenden uvre von Charles Ives handelt, so geben die Psalm-Vertonungen doch einen sehr bemerkenswerten Einblick in die Experimentierstube dieses außergewöhnlichen Komponisten. Für sehr gut disponierte Chöre mag das eine oder andere Werk gar eine richtige Bereicherung des Repertoires darstellen (und sei es nur die sehr früh entstandene, durch und durch konventionelle Partitur zum 42. Psalm). Auf jeden Fall aber ist die Dreiviertelstunde dieser CD als höchst instruktiv zu bezeichnen.
Die Interpreten dieser CD sind neben dem SWR Vokalensemble Stuttgart unter der Leitung von Marcus Creed Mitglieder des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR sowie Aleksandra Lustig (Sopran), Julius Pfeifer (Tenor), Kay Johannsen (Orgel), das collegium iuvenum und der Knabenchor Stuttgart unter der Leitung von Friedemann Keck.
Michael Kube