Ravel, Maurice / Henri Tomasi / Henri Dutilleux / Claude Debussy / Jean Françaix

Profanes et Sacrées

20th-Century French Chamber Music. Boston Symphony Chamber Players

Rubrik: CDs
Verlag/Label: BSO Classics 1102
erschienen in: das Orchester 06/2012 , Seite 75

Das besondere Interesse amerikanischer Musiker an den Werken der klassischen Moderne Frankreichs geht zurück bis ins frühe 20. Jahrhundert, als die Vorbildrolle des Kriegsgegners Deutschland in den USA plötzlich vorbei war. Die Boston Symphony Chamber Players, ein in variabler Besetzung spielendes Ensemble von Virtuosen aus einem der führenden Orchester der Welt, haben jetzt in einer CD-Produktion einige ideale Beispiele französischer Kammermusik mit höchster Könnerschaft zu einem wunderbaren Strauß zusammengebunden. Ihr Spiel hat natürlich alle Qualitäten: höchste Tonkultur und perfekte Phrasierungskunst. Sie gestalten jede Interpretation mit ausgefeilter Dynamik, wo nötig mit dezentem und doch wirkungsvollem Rubato, sodass das Melos herrlich aufblühen kann.
Als umfangreichstes Werk der Reihe in Besetzung und Aufführungsdauer begegnet uns Dixtuor für Doppelquintett – also für Streicher und Bläser – von Jean Françaix. Der 1997 85-jährig verstorbene Komponist hat sich stets intensiv der Kammermusik für Bläser gewidmet, insbesondere der Sparte Holz, die in Frankreich sehr beliebt ist. Als Verfechter einer rein tonalen und die Spielfreude in den Vordergrund stellenden – man könnte sagen: musikantischen – Komponierweise schuf er auch geradezu witzig zu nennende Bläserarrangements von Stücken Schuberts, Chopins und anderen. Das stimmungsvolle Dixtuor kann in seiner Werkanlage, der vierteiligen Satzfolge und seinem der Tradition nahestehenden Geist als exemplarisch für ihn bezeichnet werden.
Die Werke in dieser Kollektion von Claude Debussy (Sonate für Flöte, Viola und Harfe) sowie von Maurice Ravel (Introduktion und Allegro für Harfe mit Streichquartett, Flöte und Klarinette) gehören zum zentralen Kammermusikrepertoire der französischen klassischen Moderne, dem hier eine Würdigung zuteil wird mit hinreißend schönen Wiedergaben. Weitaus weniger bekannt sind die Kompositionen von Henri Tomasi und Henri Dutilleux.
Tomasi (1901-1971) stammte aus Marseille und besaß korsische Wurzeln. Auch er hat nach seinem Studium in Paris wie Françaix viel für Bläser komponiert – etwa Konzerte für Trompete, für Flöte und für Saxofon – und gehört in einen neoklassizistischen Rahmen. Er wurde ein sehr anerkannter Dirigent, leitete große Orchester in Frankreich und international als Gast, von 1946 an eine Weile die Oper Monte Carlo. Nicht von ungefähr, denn Tomaso war auch Opernkomponist. Die hier zu hörenden Cinq Danses profanes et sacrées sind lebendige Musik mit satten Kontrasten und großer rhythmischer Spannkraft, bestechend in den Melodien und Farben, typisch französisch. Mitreißend kommt die „Danse guerrière“, ein „Kriegerinnen-Tanz“, mit der Satzbezeichnung „Sauvagement frénétique“, also etwa „wild begeistert“, daher.
Der 96-jährige Henri Dutilleux liefert mit dem Diptych für Oboe, Cembalo, Kontrabass und Schlagwerk die modernste Komposition, verweist dabei mit dem Titel Les Citations auf Bezüge unter anderem zu Britten und Jehan Alain. Und doch fügt sie sich trefflich in den bis auf Ravel und Debussy zurückreichenden Kreis.
Günter Buhles