Joachim Kaiser/ Marcel Reich-Ranicki/ August Everding

Prima la musica, dopo le parole

Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki im Streitgespräch – moderiert von August Everding

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Westend
erschienen in: das Orchester 02/2019 , Seite 58

Eine Podiumsdiskussion, die im Fernsehen übertragen wurde, in Buchform zu edieren, stellt an sich schon ein Wagnis dar. Ginge es hier nicht um solch prominente Persönlichkeiten wie Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki, nicht zu vergessen dem „Moderator“ August Everding, immerhin einer der seinerzeit wichtigsten Theatermenschen, so könnte man darüber gleich zur Tagesordnung übergehen.
In diesem ganz speziellen Fall aber liegen die Dinge doch anders: Was diese drei „Kultur-Köpfe“ da innerhalb einer guten Stunde in Frage, Rede und Gegenrede Schlag auf Schlag präsentiert haben, kann eine ganze Bibliothek von klugen Abhandlungen zu dem ewigen Streit um den Primat von Wort und/oder Musik in der Oper überflüssig machen. Unwillkürlich fragt man sich zudem, wo solche Personen in der Gegenwart wohl noch zu finden wären, 23 Jahre, nachdem diese Diskussion anlässlich der Richard-Strauss-Tage in Garmisch stattfand.
Und so ist man doppelt dafür dankbar, dass ein solches Ereignis damals konserviert wurde und man es jetzt anhand des vorliegenden Textes sozusagen losgelöst vom zeitlich gedrängten Ablauf in Ruhe genießen und die hier nicht selten affektiv aufgeladen und in der Tat durchaus „streitbar“ geäußerten Ansichten auf ihren Wert hin überprüfen und mit eigenen Ansichten in Beziehung setzen kann.
Indem man auf jedwede glättende Hilfe bei dieser Ausgabe verzichtet hat und auch grammatisch Unrichtiges so stehen lässt, wie es gelegentlich im Eifer des Gefechts herauskam, bekommt der Leser ein Gefühl für die Lebendigkeit des Disputs und die überaus anregende Engagiertheit der Beteiligten. Zudem liefern diese, jeder auf seine sehr typische Art und Weise, sozusagen Charakterporträts, die zu würdigen oder genießen man sich natürlich an die Personen, die inzwischen ja allesamt verstorben sind, erinnern muss, und insofern spricht dieses Buch wohl auch in erster Linie jene schon etwas älteren Leser an, die sich noch lebhaft an diese so eigenwilligen und im besten Sinne „kantigen“ Vertreter einer Kulturszene erinnern.
Was aber das Thema der Gesprächsrunde anbetrifft, so ist dieses ja zweifellos zeitlos und bei jeder neuen Operninszenierung immer wieder aufs Neue aktuell, und die vielen klugen – manchmal auch weniger klugen – Dinge, die hier gesagt wurden, gehen auch heute noch jeden Opernfreund, ob alt oder jung, in gleicher Weise an. Selbstredend kommen die Diskutanten im Laufe des Gesprächs zu keinerlei schlüssigem Ergebnis; wie sollten sie auch, wo doch dieser Streit seit Jahrhunderten anhält und sich im Grunde bei jeder neuen Oper auch wieder aufs Neue entzündet? Aber sie rammen doch etliche Standpunkt-Pflöcke ein, von denen aus man im Einzelfall das Verhältnis zwischen Libretto und Musik ein wenig fundierter zu beurteilen vermöchte, als es dem bloßen Empfinden nach gelingen könnte. Wertvoll erscheint zudem das dem Text angefügte „Glossar“, das alle im Gespräch vorkommenden Personen, Operntitel und etliche Fachbegriffe erläutert.
Gunter Duvenbeck