Holliger, Heinz
Preludio e Fuga (a 4 voci)
für Kontrabass solo in "Wiener Stimmung"
Dieses Werk ist vielleicht das schwerste, das je für einen Solokontrabass geschrieben wurde. Holligers Devise lautet: Meine ganze Beziehung zur Musik ist so, dass ich immer wieder probiere, an die Grenze zu kommen. Diesen Satz hat er hier exemplarisch wahrgemacht, auch wenn er der Form nach die Tradition sucht. Dieses 2009/10 geschriebene Stück komponierte er für den jungen Bassisten Edicson Ruiz aus Venezuela, der seit zehn Jahren Mitglied der Berliner Philharmoniker ist. Er war es auch, der das Werk am 16. März 2010 in der Berliner Philharmonie uraufführte.
Heinz Holliger, der nicht nur für seine Oboe, sondern eigentlich für alle Gattungen der Musik geschrieben hat, angefangen von Bühnenwerken über Orchestermusik, Kammermusik bis hin zu Liedern und Vokalwerken, hat sich hier intensiv mit den Spielmöglichkeiten eines Kontrabasses beschäftigt. Er wählte für seine Komposition die im 18. Jahrhundert gängige Wiener Stimmung, das heißt mit Terzabständen bei den drei oberen Saiten. Wenn man als Spieler dann noch dünne, leicht ansprechende Saiten aufzieht, kann man ein Spiel erreichen, das nicht bassal klingt, sondern eher leicht und transparent. So ist auch die Scordatura möglich, das Spielen schwieriger Akkorde, das sonst auf dem eher sperrigen Instrument nicht so leicht gelingt. Die Anzahl der möglichen Flageoletttöne ist bei dieser Stimmung scheinbar unbegrenzt und sie liegen nahe beieinander: Dieses Werk lebt weitgehend von ihnen. Im Preludio ist die Stimme auf zwei Systemen notiert und durch zahlreiche Zeichen erweitert, die in einer ausführlichen Spielanweisung (in deutsch/englisch/ französisch) erläutert werden. Da gibt es flirrende Glissandi nach oben und unten, Tremoli und Percussionen. Zum Schluss gilt es sogar, mit dem Bogen auf dem Saitenhalter zu spielen.
Eine besondere Aufgabe ist es, die vierstimmige Fuge allein zu bewältigen. Es gibt motivische Partikel, auf vier Systeme verteilt, die sich nach und nach zu Elementen einer Fuge zusammenfinden und zu einem Ganzen zusammenschmelzen. Nach der Fuge kommt noch ein virtuoses Presto strepitoso als eine Art Coda. Das Studium dieser Partitur allein ist schon eine besondere Aufgabe, das Spiel selbst ist dann intensive Arbeit, die den ganzen Musiker fordert, physisch und psychisch. Man hat soviel zu tun, dass man keine Zeit hat, auf die Noten zu schauen: Dieses Zehn-Minuten-Stück muss man auswendig lernen.
Der Verlag hat zwei Fassungen aufgelegt: Neben der Notation in der vorgeschriebenen Wiener Stimmung ist eine zweite Version beigefügt, bezogen auf die übliche Kontrabass-Stimmung (E-A-D-G), quasi als Partitur in Griff-Notation.
Auf YouTube findet man inzwischen eine Aufnahme von Edicson Ruiz: Er zelebriert das Werk regelrecht und zeigt ein Kontrabass-Spiel, das sich mit dem Wort virtuos nicht annähernd mehr beschreiben lässt. Diese exzellente Instrumentenbeherrschung hat etwas Circensisch-Akrobatisches. Es ist zur Nachahmung empfohlen wahrscheinlich aber unerreichbar.
Wolfgang Teubner